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Sabeth schreibt

Poesie Melancholie Philosophie Feminismus Anarchismus - non serviam.

Pathologisierung, Psychiatrisierung von Frauen und Müttern - über vermeintlich verrückte, psychisch gestörte Frauen, Macht, Gewalt, Patriarchat

 
update 16.10.2023
 
Auch dieser ZEIT-Artikel "Das unnötige Drama um die verrückte Ex" veranschaulicht nochmals sehr gut das psychische Pathologisieren, Diskreditieren von Frauen, gerade durch ihnen bekannte Männer, oft (Ex-) Partner getätigt, die typische, selbstgerechte, manipulative, "passiv-aggressive", perfide, narzisstische Schuld-, Täter-Opfer-Umkehr, Tatsachenumkehr bestimmter, emotional und sozial unreifer Männer - toxische Männlichkeit.
 
"Die meisten Menschen kennen sie oder haben schon von ihr gehört: die verrückte Ex. Die Bezeichnung steht generisch für einen Typus Frau, die bei einer Trennung aus völlig unerfindlichen Gründen ihrem meist männlichen (Ex-)Partner das Leben schwer macht, während er sich ihrem irrationalen Wüten hilflos ausgeliefert sieht. Mit psychischen Erkrankungen hat die verrückte Ex dabei nicht zwingend etwas zu tun. "Verrückt" ist, was der Mann so bezeichnet. (...)
 
Es geht auf der einen Seite um Verantwortungsübernahme und Glaubwürdigkeit, die zurückgewiesen werden, und auf der anderen Seite um Frauenfeindlichkeit, die der Selbsterleichterung dient.
So bemühen Männer die Bezeichnung "verrückte Ex" oft vor ihren Kumpels, um anzuzeigen, dass sie völlig schuldlos sind an der Trennung und den Irritationen, die diese vielleicht auch im Freundeskreis ausgelöst hat. Sie wollen damit vermitteln, dass sie immer noch der sympathische Kerl sind, den die anderen kennen, und dass die Eskalation einzig von der Frau ausgegangen ist. Auch vor potenziellen neuen Partnerinnen wird die Ex oft als verrückt abgestempelt. Der Mann sagt der neuen Frau damit: "Keine Ahnung, was mit der los war, ich bin ein Supertyp." (...)
 
Neben unbequemen Fragen an diesen Supertypen verhütet die Brandmarkung der ehemaligen Partnerin als "verrückte Ex" dabei noch etwas: dass jemand auf die Idee kommt, die Gegenseite um ihre Version der Geschichte zu bitten. Es wäre ohnehin sinnlos, denn: Sie ist ja eh verrückt – und wer eine Verrückte anhört, handelt fast schon illoyal. Die Ex wird so diskreditiert und in puncto Glaubwürdigkeit isoliert, Misstrauen gegen sie wird geschaffen und alle möglichen Bündnisse gegen den Mann werden im Vorfeld verhindert. Der gleiche Mechanismus verfängt übrigens auch bei der Rape Culture, wenn das Gewaltopfer als "leichtes Mädchen" dargestellt wird. So jemand kann gar kein Opfer sein, die treibt es ja eh mit jedem. (...)
 
Während das eine die rückblickende Diskreditierung der früheren Partnerin darstellt, ist das andere eine vorausschauende Diskreditierung der nächsten. In Datingprofilen von Männern fällt das Wort auffallend häufig, sie suchen Beziehungen, Affären, sexuelle Begegnungen "ohne Drama". Die Formulierung bedeutet nichts anderes, als dass es nicht am Mann liegen wird, wenn es zu irgendwelchen Konflikten kommt. Er ist unkompliziert und entspannt – wenn irgendetwas passiert, das das Wort Drama verdient, liegt es am Verhalten und der Persönlichkeit der Frau.
In Wahrheit ist es natürlich der Mann, der hier mangelnde Reife und ein schlechtes Konfliktverhalten offenlegt. Er benutzt die Bezeichnungen, um sein eigenes Verhalten nicht hinterfragen oder gar erklären zu müssen. Der Mann der "verrückten Ex", der bei der nächsten Beziehung kein "unnötiges Drama" will, ist in seiner Version immer das Opfer. Und das Einnehmen dieser Rolle ist zwar etwas zutiefst Menschliches, negiert aber auch die Komplexität zwischenmenschlicher Beziehungen. Probleme zwischen zwei Menschen entstehen nicht, weil eine Partei plötzlich beschließt, dem anderen das Leben schwer zu machen. Probleme entstehen, weil zwei Menschen miteinander interagieren. (...)
 
Wer aber in den genannten Situationen vom "unnötigen Drama" mit der "verrückten Ex" spricht, bedient ein misogynes Stereotyp. Er bringt die Frau in Zusammenhang mit irrationalem Verhalten, mit "Hysterie". Ohne nachvollziehbare Gründe verwandelt sich die Partnerin, mit der der Mann ja eine gewisse Zeit verbracht, die er geliebt oder zumindest begehrt hat, in eine rasende Furie. Alles ist allein in ihrem Kopf entstanden, im Grunde ist sie komplett irre. Diese ihrerseits komplett irre Schuldabwehr funktioniert nur, weil sie mit gesellschaftlich verbreiteten Vorurteilen korrespondiert – die sie wiederum verstärkt.
 
Als Frau kann man anderen Frauen im Grunde nur raten, sich in Sicherheit zu bringen, wenn ein Mann etwas von seiner verrückten Ex und ihrem unnötigen Drama erzählt. Denn beide Formulierungen sind Signale für ein Verhaltensmuster, das der Mann mit Sicherheit nicht nur bei seiner Ex-Partnerin anwendet. Eine Frau, die sich mit einem Mann einlässt, der seine Ex-Partnerin verrückt nennt, muss sich im Klaren darüber sein, dass sie die nächste "Verrückte" im Leben dieses Mannes sein wird. Dass er auch in Konflikten mit ihr jede Verantwortung für sein eigenes Verhalten ablehnen und die Schuld auf sie abwälzen wird. Dass ihre Glaubwürdigkeit untergraben und sie sozial isoliert wird, damit nur niemand erfährt, wie sich der Mann in der Beziehung verhalten hat."
 
https://www.zeit.de/kultur/2021-10/beziehungen-verrueckte-ex-konflikte-verhalten-maenner-unreif?utm_referrer=https%3A%2F%2Fl.facebook.com%2F
09. Mai 2023
 
Pathologisierung, Psychiatrisierung von Frauen und Müttern - über vermeintlich verrückte, psychisch gestörte Frauen, Macht, Gewalt, Patriarchat
 
Siehe auch Silencing, Frauen zum Schweigen bringen, Frauen unter patriarchal-autoritärer Kontrolle und Funktionalität, Verfügbarkeit, Unterwerfbarkeit halten, um sie benutzen, objektifizieren, ausbeuten zu können, für den Erhalt männlicher, patriarchaler Privilegien, Vorteile, Deutungshoheit und vermeintlicher Macht.
Psychische und physische Gewalt, Misshandlung.
ursprünglich verfasst am 08. Juli 2022
 
Je intensiver und langandauernder ein Mensch, Individuum, gesundheitlich, sozial, wirtschaftlich, bürokratisch, finanziell, emotional, existenziell - nicht selten auch vielfach - belastet, benachteiligt, übergangen, missachtet, drangsaliert, schikaniert, herabgesetzt, ausgebeutet, ausgegrenzt, also: beschädigt wird, umso weniger ist er willens, bereit, fähig zu Empathie, Mitgefühl, Kooperation, Solidarität.
 
Er hat schlicht keinerlei Kraft, physische und/oder psychische Ressourcen mehr dafür - sie sind, wie er selbst, erschöpft, entleert.
Er müsste längst zunächst selbst wieder "aufgetankt" werden. Statt belastet, beschädigt von anderen - bekannten oder fremden - Menschen, von Verwaltung, Behörden, Bürokratie, Justiz, Gesundheitssystem, Krankenkassen, Versicherungen, Banken, Schulen, Erwerbstätigkeit, Vorgesetzten, Arbeitskollegen, Mitbürgern, Staat, Regierung ... .
 
23. Juli 2022
 
Sowohl Kapitalismus, Neoliberalismus als auch Staat, inkl. Staatsgewalt, Justiz - Straf- und Klassenjustiz - Exekutive, Regierungen, Polizei, Militär, Verwaltung, Gefängnis, Psychiatrie, Kontrolle, Überwachung, Repression, Autoritarismus sind Manifestationen des Patriarchats.
 
30. Juli 2022
 
Um Kooperation, Solidarität "der Geschlechter", von Frau und Mann, Frauen, Männern, ging es seit Bestehen des Patriarchats (seit ca. sieben- bis zehntausend Jahren) noch nie.
 
Der Mann war/ist immer der Maßstab: in Arbeit, Wirtschaft, Medizin, Kultur, Literatur, Musik, Sport ... . Wer einen Platz ergattern will, muss sich - Frau wie Mann - dem unterwerfen, sein persönliches physisches wie psychisches Verfasstsein, seine eigenen Werte, Ideale, Wünsche, Grenzen, Ziele dem unterordnen, dafür aufgeben - oder er/sie erhält und behält "seine Position" (Macht, Einfluss, Geld, Karriere) nicht.
 
Um das zu ändern, reicht es nicht, darüber zu reden, es zu kritisieren, sondern man muss die Lebensverhältnisse, -umstände - global letztlich - ändern, es hat also basal und vor allem mit Geld, materieller, sozioökonomischer Lebensgrundlage und daraus resultierend, damit einhergehend: Entfaltungsmöglichkeiten ... zu tun.
 
Irgendjemand muss die sogen. Reproduktionsarbeit, Sorge-Arbeit leisten: sich um Kinder, Alte, Kranke, Sterbende, Versehrte ... kümmern, Putzen, Waschen, Kochen, emotionalen Beistand leisten, trösten, stärken, zuhören, fürsorglich sein usw..
So lange das weltweit Frauen unentgeltlich machen und diese ihre Leistung, Arbeit, als solche nicht anerkannt, geschweigedenn existenzsichernd bezahlt wird, sondern dies allenfalls nur dann und auch dann zumeist schlecht, wenn sie fremdbetreuen, fremdsorgen - in Einrichtungen (Kita, Pflegeheim, Krankenhaus ...), so lange als Arbeit, Leistung im patriarchal-autoritär-destruktiven Kapitalismus, Neoliberalismus nur das gilt, das das Wirtschaftswachstum, Profit und Kapitalakkumulation einiger Weniger zur Folge hat, so lange all das als "richtig, gut, normal" schon in Kindergärten und Schulen, global also Kindern von klein auf indoktriniert, eingebläut wird und kaum jemand es mehr hinterfragt, sondern die Mehrheit ;) sich dem gehorsam, geknechtet unterwirft und die ihr hingehaltene Lügenkarotte ("Erfolg, Wohlstand, Lebensglück, Selbstverwirklichung, Karriere, Macht, Einfluss" etc.) je persönlich für erstrebenswert hält, ihr stupide, tumb nachläuft und sich ebenso artig durch Konsumismus ersatzbefriedigt, also: verheizen l ä s s t und so lange all diese armen, physisch und psychisch im Lebensverlauf geschundenen, ausgebeuteten, fügsamen, funktionalen Menschenobjekte sich gegeneinander aufhetzen, spalten l a s s e n, so lange wird sich nichts ändern - können:
zum Wohltuenden, Konstruktiven, Friedlichen, Gerechten, Sozialen, Gemeinschaftlichen, Kreativen, Vielfältigen, Solidarischen hin.
 
Zu viele Leute lassen sich mit Symbolpolitik abspeisen und durch Manipulation hinters Licht führen: funktionalisierbar, benutzbar machen. Die vielzitierte Mehrheit.
Denn sie glauben (!), es gebe nichts anderes, schon gar nichts "Besseres", Wohltuenderes - für alle, nicht nur für sie persönlich - als das, das sie bisher nur kennen. Und wenn ihnen jemand "Alternativen" aufzeigt, sind sie desinteressiert, argwöhnisch, abwehrend, verweigernd.
 
Die meisten Leute sind leider so hart indoktriniert, dass sie vieles für selbstverständlich halten, es nicht hinterfragen, geschweigedenn kritisieren, obwohl sie auch selbst darunter leiden.
Sie meinen, man müsse sich anpassen, es mitvollziehen, es ginge nicht anders und "alle machen es doch so".
 
Die meisten Leute fragen nicht nach dem Warum, Woher, Wohin, was sinnvolles, Gemeinwohl förderliches, wohltuendes Arbeiten, Wirtschaften, Miteinanderleben ist, wie das eigentlich aussehen, gestaltet werden müsste und: könnte. Sie fressen einfach alles, das ihnen Schule, Regierungen, Medien, Zeitungen, Bücher, Romane, Filme, der mainstream vorsetzt und das man ihnen seit ihrer Kindheit eingetrichtert und "vorgemacht" (!) hat.
Sie reflektieren nicht, dass, wie und warum sie funktionales Menschenmaterial sind - nicht Subjekte, Individuen, Persönlichkeiten.
Sie glauben (!), dass alles seine Richtigkeit hat, denn irgendwie läuft der Laden ja (Wirtschaft, Politik, Justiz ... in ihrem Land) und wenn nicht, lässt es sich ja nicht ändern, außer durch Gewalt. Meinen sie.
 
Und klar: einzelne Wenige können kaum etwas ausrichten, verändern. Aber statt sich zusammenzuschließen, was möglich ist, auch immer wieder getan wurde - siehe bspw. im Spanischen Bürgerkrieg: mindestens 70% der Betriebe funktionierten selbstverwaltet: im Krieg! - siehe auch kleinere Gruppen, Nischengemeinschaften, Vereine, Betriebe, die bspw. Soziokratie (Konsentprinzip, systemisches Konsensieren) praktizieren oder solidarische Landwirtschaft, sich an Gemeinwohlökonomie orientieren, gemeinschaftlich selbstverwaltet wohnen/leben, siehe cohousing, lassen Menschen sich spalten, gegeneinander aufhetzen.
 
Aber all das und noch vieles andere ist der artigen, angepassten, konformistischen, bürgerlichen Mehrheit suspekt. Entweder geht es ihnen selbst noch zu gut, als dass sie etwas mit anderen für das Wohl der Gemeinschaft konstruktiv, aktiv, eigeninitiativ verändern wollen oder sie kleben einfach so an dem, das sie sich "aufgebaut" haben: Ehe, Kleinfamilie, Haus, Job und scheissen auf Gemeinwohl, soziale Gerechtigkeit, Solidarität, Kooperation.
 
Und dann gibt es - weltweit - die vielen, die längst zu krank, beschädigt, versehrt sind, ihnen fehlt schon die rein körperliche Kraft, Energie, etwas zu verändern, ihnen mangelt es an ausreichend sauberem Trinkwasser, gesunder Nahrung, Obdach, medizinischer Versorgung, Mobilität, Teilhabe, Freiheit, Selbstbestimmung, Rechtsschutz - an dem Basalsten also.
 
Wenn es immer wieder doch mal zu - zumeist nur vorübergehenden - Aufständen, Aufbegehren, Bewegungen, Revolutionen kommt, dann nur, wenn/weil es sehr vielen sehr schlecht geht und sie es gar nicht mehr aushalten können.
Man denke an diverse Revolutionen in der Geschichte, in unterschiedlichen Ländern zu unterschiedlichen Zeiten, an all die politischen, rechtlichen, sozialen, wirtschaftlichen Missstände, Ausbeutung, Gewalt von Herrschenden, Machthabenden, Staaten, Regierungen, aber auch
an BlackLivesMatter, die verschiedenen Feminismuswellen, die Antikriegs-/Friedensbewegung, die 68er, an die Occupy-Bewegung (um den wunderbaren, unentbehrlichen David Graeber) und die von mir sehr geschätzten Gilets Jaunes in Frankreich.
Aber es flaut dann meistens relativ bald wieder ab, wenn/weil den Leuten von Herrschenden kleine Zugeständnisse gemacht, sie damit abgespeist oder vertröstet, hingehalten, beschwichtigt, ruhiggestellt werden - und die Leute das, ich wiederhole mich: mit sich machen l a s s e n. Immer wieder.
 
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"»Die psychiatrische Ordnung« ist eine Geschichte der modernen Psychiatrie, die insbesondere die Verflechtungen dieses Zweiges der Medizin mit den Organisationen gesellschaftlicher und politischer Macht aufzeigt. Castels Buch schließt zeitlich und sachlich an Michel Foucaults »Wahnsinn und Gesellschaft« an. Anders als ihre Vorläuferinnen fungiert die moderne Psychiatrie indes nicht mehr in erster Linie als sozialer Ausgrenzungsmechanismus, sondern als Integrationsmechanismus. Die Entstehung der modernen Psychiatrie ist unauflöslich mit den Problemen verquickt, die sich mit Beginn des industriellen Zeitalters stellten: Normalisierung und Überwachung der Kinder, der Delinquenten und Vagabunden, der Armen und schließlich und vor allem der Arbeiter. Eine Folge der »Lösung« dieser Probleme ist unter anderem: seit dem 19. Jahrhundert ist jeder einzelne in den westlichen Gesellschaften »psychiatrisabel«."
 
"(...) Das Zum-Schweigen-Bringen von Frauen als eine seit der Antike wirkmächtige Kulturtechnik und deren Auswirkungen auf die politische Öffentlichkeit sind die Themen von „Women & Power. A Manifesto“ (Profile Books). Das Bändchen vereint zwei um Vor- und Nachwort ergänzte Reden Mary Beards für die „London Review of Books“ aus den Jahren 2014 und 2017. Von der in eine Kuh verwandelten Io, die nur noch Tiergeräusche machen kann, über die Muse Echo, deren Stimme nie die eigene ist, bis hin zu Penelope, der ihr halbwüchsiger Sohn über den Mund fährt – die Altertumswissenschaftlerin aus Cambridge kann mit mannigfachen Beispielen für Geschichten aufwarten, in denen Frauen der Antike ihrer Stimme beraubt wurden. (...)"
 
 
"Wenn Männer Frauen für krank erklären"
 
Beispiele:
 
- Stockholm Syndrom
- Hysterie
- Besessenheit
- False Memory-Syndrom
- Elterliches Entfremdungssyndrom
- Frigidität
- Nymphomanie ...
 
Macht, Kontrolle, Unterwerfung - Autoritarismus, Patriarchat
 
"(...) False Memory Syndrom
Die „Das stimmt doch alles gar nicht, hör auf das zu sagen“ Variante. (...)
 
Elterliches Entfremdungssyndrom
Wurde 1985 erstmalig von dem Kinderpsychiater Richard Gardner beschrieben und hat seitdem immer wieder dazu gedient, Müttern in Gerichtsprozessen zu unterstellen, sie würden dem Kind bewusst oder unbewusst den Vater so sehr entfremden, bis es mit unbegründeter Ablehnung und Abwertung reagiert. Anfänglich war Gardner davon überzeugt, dass für 90% der Entfremdungsfälle die Mütter verantwortlich sind. In diesem Setting wurde es immer wieder vor Gericht dazu benutzt, Schuld zuzuweisen, ablehnendes Verhalten des Kindes zu relativieren bis hin zur Nutzung als Verteidigungsstrategie gegen Vorwürfe des sexuellen Missbrauchs. Das elterliche Entfremdungssyndrom ist aufgrund seiner mangelhaften theoretischen Fundierung und seiner anfänglich sexistischen Zuschneidung wissenschaftlich hochumstritten, bzw. wird gänzlich negiert. (...)
 
Frigidität
Der „Es liegt nicht an mir, es liegt an ihr“ Selbstbetrug. Würde man den Begriff ernst nehmen, müssten „Geschlechtskälte“, Unerregbarkeit und geringes sexuelles Verlangen ja auch bei Männern vorliegen. Aber es sind zumeist Frauen, die als frigide bezeichnet werden und wurden. Und zwar nicht aus Sorge um ihre Gesundheit, sondern als Vorwurf, in der sexuellen Performance zu versagen. Als Abwehrreaktion. Wenn sie nicht von dem erregbar ist, was ihm so sexuell vorschwebt, dann muss es an ihr liegen. Frigititätsunterstellungen zielen gerne auf emanzipierte Frauen und werden häufig in antifeministischen Einwürfen bemüht – durchaus auch von Frauen. (...)
 
Worum es uns hier geht, ist die Feststellung, dass es offenbar eine lange, bis in die Gegenwart reichende Tradition gibt, das Verhalten von Frauen zu problematisieren, tatsächliche Krankheiten mit Phantasieprodukten zu überdecken und über den medizinischen Zugang weiblicher Autonomie habhaft zu werden. Nicht zuletzt der sexuellen Autonomie. Es bleibt also noch viel zu tun. Daten erheben, Forschung betreiben, Mythen entzaubern, Lehrmeinung überarbeiten. Und das mit einem möglichst geschlechtersensiblen Blick. Höchste Zeit dafür."
 
"»Wir haben im Laufe der Zeit viele mißrathene Frauengestalten über die Bühne hinken sehen, aber so eine unausstehlich verschrobene und geistig verkrüppelte Person wie diese Nora des norwegischen Dichters ist uns selten vorgekommen.« Das schrieb die Neue Freie Presse im Jahr 1881 als Reaktion auf die Österreichische Erstaufführung des Stückes Nora oder Das Puppenheim des norwegischen Dramatikers Henrik Ibsen. 1879 und 1880 wurde das Stück in Kopenhagen und in Hamburg uraufgeführt; an beiden Orten allerdings hatte der Schutz der Institution Ehe erfordert, dass das Ende umgeschrieben würde. Nora nämlich steht für weibliche Autonomie und Emanzipation. Damit schürte Ibsen die Angst des männlichen Publikums vor der Auflösung der klassischen Geschlechterdifferenzen. Deshalb reagierten die Herren mit Abwehr und Diffamierung auf die selbstbewusste Frauenfigur. (...)
 
Da aber ein öffentlicher, rufschädigender Skandal abgewendet werden kann, ist für Helmer das Eheglück nach einer kurzen Krise wieder hergestellt: »Du hast mich geliebt, wie eine Frau ihren Mann lieben soll. Es fehlte Dir nur an der nötigen Einsicht zur Beurteilung der Mittel. Aber glaubst Du, daß Du mir weniger teuer bist, weil Du nicht selbständig zu handeln verstehst? Nein, nein, stütz' Dich nur auf mich, ich will Dir Berater, will Dir Führer sein. Ich müßte kein Mann sein, wenn nicht gerade diese weibliche Hilflosigkeit Dich doppelt anziehend in meinen Augen machte.« Diese Bevormundung und Erniedrigung sind für Nora in der ursprünglichen Version der Grund, Helmer zu verlassen. In der zensierten Version bleibt sie bei ihm der Kinder wegen. Helmer versucht, Nora, die doch »von Sinnen ist«, zum Bleiben zu überreden: »In erster Linie bist Du Gattin und Mutter.« Nora entgegnet: »Das glaube ich nicht mehr. Ich glaube, daß ich vor allen Dingen Mensch bin, so gut wie Du, – oder vielmehr, ich will versuchen, es zu werden. Ich weiß wohl, daß die Welt Dir Recht geben wird, Torvald, und daß etwas Ähnliches in den Büchern steht. Aber was die Welt sagt und was in den Büchern steht, das kann nicht länger maßgebend für mich sein. Ich muß selbst nachdenken, um in den Dingen Klarheit zu erlangen.«
 
Dass eine junge Mutter und Ehefrau sich derart emanzipiert, ist für die männlichen Zeitgenossen nicht hinnehmbar. Das zeigt sich in der Rezeption des Stückes. Zum einen werden Ibsens Fähigkeit als Dramatiker in Frage gestellt. Zum anderen wird die Protagonistin Nora kompromittiert. Beides zielt darauf, dem Stück die gesellschaftskritische Dimension zu nehmen.
Der Angriff auf die Integrität Noras funktioniert vermittelt über ihren Mangel an weiblichen Attributen. Sie ist eine Verbrecherin und sie verweigert die Rolle als Ehefrau und Mutter; damit ist sie in mehrfacher Hinsicht als unweiblich markiert und steht für einen Angriff auf die Ordnung der Geschlechter in der bürgerlichen Welt. Diese Ordnung kann nur wiederhergestellt werden, indem der Mann die Frau in ihre Schranken weist und sie diszipliniert. Da Frauen auf ihre Biologie reduziert werden, werden Abweichungen vom normativ geforderten Verhalten auf der medizinischen Ebene verhandelt. Eines der vermeintlichen Krankheitsbilder, auf die man dafür im 19. Jahrhundert zurückgreifen konnte, war die Hysterie. In ihr wurden Phänomene und Symptome aus willkürlichen Bereichen zusammengefasst, manche davon reale Störungen, andere imaginierte psychische und physische Defizite. (...)
 
Im Anschluss an die Pathologisierung wird Noras Wunsch nach Unabhängigkeit und Selbstverwirklichung als eine Folge der weiblichen Hysterie dargestellt und nicht als Sehnsucht nach einer neuen sozialen Ordnung. Ihre Emanzipationsbemühungen werden vereitelt.
Fast alle Zuschreibungen von Hysterie funktionieren nach diesem Prinzip und sie wirken nach bis in die Gegenwart. Die Diskurse um Hysterie lassen sich immer noch finden, wenn die Frau Selbstbewusstsein erlangt und gegen ihr gesellschaftliches Schicksal aufbegehrt. Die Hysterisierung der Frau ist also eine Reaktion auf ein Krisenphänomen. In die Krise geraten sind herkömmliche Rollenverteilungen. Im Zentrum der Krise steht die männliche Angst vor dem Verlust von Privilegien und Macht, die Angst davor, dass dem Mann eine gleichberechtigte Partnerin gegenüber steht. Mit der Hysterie wird diese Angst gebändigt, wird die Frau in Schach gehalten. (...)
 
Die Hysteriediskurse wurden nicht ausschließlich, aber vorrangig, als ein Kampf zwischen den Geschlechtern geführt. Bereits die Griechen und Römer brachten die Hysterie immer dann ins Spiel, wenn das Reproduktionssystem der Frau ihrer Meinung nach inaktiv oder unbefriedigend war. (...)
 
Im Spätmittelalter verschmolz der Diskurs um die weibliche Hysterie mit dem Hexenwahn. Dämonische Besessenheit und Teufelswerk traten an die Stelle der wandernden Gebärmutter. Gemein war beiden Konzepten allerdings ihre misogyne Grundhaltung. Diese wurde erst abgeschwächt, als die archaisch-rituelle Reaktion auf die Hexe durch Pathologisierung abgelöst wurde, als aus Sünde Krankheit wurde.
 
Obgleich im Lauf des 17. Jahrhunderts bereits Konzepte anklangen, die den Ursprung der Hysterie im Nervensystem verorteten, setzten sich diese Ideen nicht durch. Vielleicht gerade weil Männer ebenfalls an der Hysterie erkranken könnten, wenn man sie als ein neurologisches Problem betrachtet. Vor allem aber schürte die Französische Revolution erneut die Angst vor der Emanzipation der Frau und machte es ab 1800 erneut notwendig, Legitimationen für deren Erniedrigung zu finden. Der Mann fürchtete die Autonomie der Frau, die ihn in seiner Rolle als Überlegener bedrohte. Wenn die Unterschiede zwischen Mann und Frau zu verschwinden drohen, weil die Geschlechter sich viel ähnlicher sind, als der Mann es sich wünschen würde, dann braucht es Konstrukte, um die Schwäche des Mannes zu kaschieren und die der Frau zu betonen.
 
Hatte die Medizin einige der als Hexen angeklagten Frauen noch vor dem Scheiterhaufen gerettet, so etablierte sie nun die Norm von biologischer und gesellschaftlicher Weiblichkeit. Die Reduktion auf Geschlecht und Reproduktion war der neue, alte Mechanismus, mit dem die Frau diszipliniert wurde: Hysterie wurde mit ausstehender Mutterschaft in Verbindung gebracht (denn es brauchte Nachwuchs für die voranschreitende Industrialisierung). Andererseits wurden auch Uterusverstopfung oder Übererregung der Gebärmutter diagnostiziert, was die Willkür verdeutlicht, mit der einander widersprechende Symptome zusammengefasst wurden. Diese Tendenz setzt sich im Laufe des 19. Jahrhunderts fort, obwohl die Hysterie als eine Geisteskrankheit verhandelt wird, bleibt sie fortwährend an die weibliche Biologie gebunden und der Mann bis zum Ersten Weltkrieg mit wenigen Ausnahmen außerhalb des Fokus.
 
Ein entscheidender Schritt bei der Diagnose von Hysterie, wie bei der »geistig verkrüppelten Person« Nora, besteht darin, das Ungleichgewicht zwischen der ohnmächtigen Frau und dem übermächtigen Mann aufrecht zu erhalten. Die Frau wird entmündigt, damit ihr kein Widerspruch mehr gegen ihre soziale und medizinische Behandlung möglich ist. Der Experte weiß: Entweder ist die Frau unzurechnungsfähig, weil sie als Hysterikerin in einem permanenten Zustand des Dämmerns und der Bewusstlosigkeit ist, oder sie ist eine krankhafte Lügnerin. In beiden Fällen kann sie selbst nicht zwischen Wahrheit und Wirklichkeit unterscheiden, infolgedessen kann man ihr weder Glauben noch Vertrauen schenken. Die schwierigsten Fälle sind diejenigen, die eine Mischform der beiden darstellen – auch hier zeigt sich wieder die Willkür in der Setzung von Symptomen. Die Urteilsfähigkeit der Frau – und das gilt nicht nur für die Hysterikerin – ist noch eingeschränkter, wenn sie beispielsweise menstruiert, dann neige sie geradezu zu Falschaussagen. In dieser Absurdität tritt eine weitere Angst des Mannes zu Tage, die im Tabu der Menstruation festgeschrieben ist: Die männliche Angst vor der Monatsblutung, die immer neue Wege findet, die Frau während der Periode zu isolieren.
 
Um 1800 galten für Frauen noch Heirat, Schwangerschaft aber auch sexuelle Kontakte als heilsam. Sex als Therapieempfehlung nahm ab, je wichtiger die Reproduktionsarbeit der Frau im Haushalt im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde. Man konnte ihr das eigene Begehren nicht länger zugestehen, sondern brauchte sie daheim am Herd. Die Folgen dieser Ordnung des familiären Lebens finden sich wiederum als Momente von Verdrängtem in den Diskursen um Hysterie wieder: vor allem in den vielfältigen »Sexualtherapien«. Frigidität und Laszivität, der fehlende und der überzogene Geschlechtstrieb, beide werden problematisiert und als Symptome für Hysterie eingeordnet. Beide gelten als Abweichung von der sogenannten normalen Sexualität, es spielt keine Rolle, dass sie an jeweils unterschiedlichen Enden eines Spektrums angesiedelt sind, dass die Vermischung beider als Symptome derselben Krankheit irrational ist. In ihnen ist die Angst vor der Verführung einerseits und der souveränen Weigerung der Frau andererseits aufgehoben. Das wird in den Rollenbildern, wie sie in Abhängigkeit von Klassenzugehörigkeit produziert werden, noch deutlicher. Die bürgerliche Frau ist die triebkontrollierte Person, der die triebhafte Proletarierin gegenübergestellt wird. Was in der bürgerlichen Klasse als abnorm oder pervers gilt, wird als Krankheitsbild unter die Hysterie subsumiert. Die proletarische Frau hingegen gilt als moralisch ungesund. Das ist vor allem vor Gericht relevant, denn die proletarische Frau wird strafrechtlich sanktioniert, während die Kontrolle der bürgerlichen Frau über die medizinische Diagnose von Hysterie funktioniert – ganz wie in Ibsens »Nora«. (...)
 
Immer wenn die Hysterikerinnen, die Aufmüpfigen, kontrolliert werden mussten, hatten Mediziner einen enormen Einfluss. Sie mussten die Frauen wieder an ihren Platz verweisen, mussten die Gesellschaft stabilisieren und Normalität herstellen. (...)
 
Es könnte reiner Zufall sein, dass William Masters und Virginia Johnson etwa hundert Jahre später ebenfalls ein Modell in vier Phasen konstatieren, das der »Human Sexual Response«, mit der Phase der Erregung, des Plateau, des Orgasmus und der Rückbildungsphase. In der Salpêtrière jedenfalls verwischten die Grenzen zwischen Wissenschaft, Kunst und Pornographie. (...)
 
Auf diesem Wege wurde der elektronische Dildo erfunden, weil der Arzt bei der manuellen »Behandlung« seiner sogenannten Patientin so häufig Krämpfe erlitt. Die Grenzen zwischen Beobachtung und Pornographie, zwischen Therapie und Missbrauch wurden aufgehoben. Dies wurde nicht skandalisiert, es passte in den Geist der Zeit, in dem die Vorstellung vorherrschte, dass die Frau sich ziert und nur darauf wartet, vom Manne genommen zu werden; in der nur als Vergewaltigung galt, wenn eine erzwungene Penetration mit Penis vollzogen wurde. Eine Auffassung, die sich bis heute hält. Die Hysterikerin, die Frau als solche, hatte kein Recht auf ihren Körper, schon gar nicht auf ihre eigene Sexualität in einer Gesellschaft, in der Schwangerschaftsabbrüche verboten waren und die Allgemeinheit ein Recht auf das Wissen um die Jungfräulichkeit der Frau hatte. Zudem spiegeln sich in dieser Praxis zeitgenössische Tabus. Die verdrängte Sexualität – der mythologisierte weibliche Körper – kehrt in der Medizin zurück. (...)
 
Jungen Mädchen und Frauen wurden aufgrund ihres unterstellten hysterischen Leidens eine krankhafte Phantasie und ein pathologischer Erfindungsdrang nachgesagt. Beschuldigte ein junges Mädchen einen vermeintlich rechtschaffenen Mann der Vergewaltigung, so wurde sie ganz einfach mit Hysterie diagnostiziert wurde. Also konnte es sich bei ihrer Aussage nur um eine sexuelle Falschbeschuldigung handeln. Zur Erinnerung: Die Hysterikerin kann einerseits schwer zwischen Phantasie und Wirklichkeit unterscheiden, andererseits ist sie ohnehin krankhafte Lügnerin. Die sogenannte Notzucht blieb in einem solchen Fall dementsprechend ungeahndet. Nicht selten wurde der Mann als das Opfer inszeniert, vor allem dann, wenn es Klassenunterscheide zwischen Mann und Frau gab, beispielsweise im Bereich der Prostitution. Der Trieb des bürgerlichen Mannes wurde umgedeutet in die männliche Schwäche und Verführbarkeit durch das hintertriebene, raffinierte, verdorbene proletarische Mädchen.
Alle diese Beispiele sind Indikatoren eines komplexen Systems, in dessen Zentrum immer wieder die Rechtfertigung jeglicher Interessen und Fehltritte des Mannes stehen. Es schützt ihn, wo sein Trieb gefährdet ist, es erhält seinen gesellschaftlichen Einfluss. Die Willkür an Symptomen ist dabei der Tatsache geschuldet, dass der Mann über Jahrhunderte die Erklärungen für sein irrationales Verhalten in den weiblichen Körper eingeschrieben hat. (...)
 
Die gelbe Tapete aus dem Jahr 1892 von Charlotte Perkins Gilman schildert aus der Ich-Perspektive ein Leiden am Frausein in einer Art Tagebuch. Aus Sicht ihres Mannes und ihres Bruders, beide angesehene Ärzte, sei sie nicht krank, tendiere lediglich zum leicht Hysterischen und leide an einer temporären nervösen Depression. Dennoch wird sie mit Phosphor, Lebertran, Bier, Wein und rohem Fleisch behandelt. Vor allem aber darf sie nicht arbeiten, nicht lesen, nicht schreiben. Soziale Kontakte werden ihr verwehrt und lediglich in Aussicht gestellt wie eine Art Belohnung, sobald sie genesen sei. Dabei sehnt sie sich nach Austausch, nach Beschäftigung und intellektueller Stimulation. Sie schreibt deswegen heimlich in ihr Tagebuch – was wiederum sehr anstrengend ist, weil sie im Verborgenen schreiben muss. (...)
 
Weil sie eine »nervöse Patientin« sei, sagt ihr Mann, habe sie eine Tendenz zu wilden Ideen und Wahnvorstellungen. Man dürfe diesen Phantastereien nicht nachgeben, sondern müsse ihnen mit gesundem Menschenverstand begegnen. Die Ignoranz ihre Bedürfnisse und Ängste treibt die Frau am Ende an den Rand des Wahnsinns. Hier kommt die gelbe Tapete ins Spiel. War sie am Anfang abgestoßen von der Tapete in ihrem Schlafzimmer, so beginnt sie, die Tapete nach und nach in ihre Lebenswirklichkeit zu integrieren. Sie wähnt anfangs eine, später mehrere Frauen eingesperrt hinter der Tapete. Es verschwimmt die Grenze zwischen ihr und der Frau in der Tapete. Sie verbindet ausschließlich negative Assoziationen mit der Tapete und will dennoch nicht aufgeben, das Rätsel dahinter zu lösen, die Frau hinter der Tapete und damit sich selbst zu befreien. (...)
 
Gilman beschreibt nicht nur die Situation der Protagonistin, sondern auch ihre eigene und die vieler anderer Frauen in einer patriarchal geprägten Gesellschaft. Wenn die Protagonistin durch die Diagnose ihres Mannes immer weiter isoliert wird, wenn ihre Urteilsfähigkeit und Glaubwürdigkeit in Frage gestellt werden, die Einschätzung des Mannes aber immer unhinterfragbar bleibt, dann geht es um eine gesellschaftliche Analyse, mehr als um eine medizinische. Wie die Mehrzahl der Frauen in der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts bleibt die Protagonistin ausgeschlossen von der Welt des Mannes, die geprägt ist durch sozialen und intellektuellen Austausch sowie ein Berufsleben oder ein wirtschaftliches Leben.
 
Pierre Briquet (1796-1881) stellte etwa zur selben Zeit die Depression der Hysterikerinnen heraus. Er sah das tägliche Leiden als eine Ursache für dieses Unglücklichsein und betonte, dass die Hysterie in engem Zusammenhang mit Mutterschaft steht, nicht mit Kinderlosigkeit. Nur passt diese Erklärung nicht in das Rollenverständnis der meisten Männer, die zugleich Ärzte sind. Wenn die Frau nicht die Kinder austragen, ernähren und erziehen möchte – wer soll dann daheim bleiben? Die Angst vor dem Kontrollverlust verhindert die Anerkennung eines gesellschaftlichen Problems, verstellt eine alternative Diagnose des weiblichen Leidens. (...)
 
Viel wichtiger und wahrscheinlicher als Ursache der Depression ist die physische Verfasstheit der Frau: körperliche Veränderungen und Verletzungen in Folge der Geburt und Schwangerschaft, Schlafentzug, Erschöpfung. Hervorzuheben ist dabei die generelle Ignoranz physischer Folgen von Schwangerschaft gegenüber der Überbetonung der psychischen. Eine Studie an der Universität Michigan von 2016 zeigte, dass 30 Prozent der 68 untersuchten Frauen unentdeckte Frakturen der Schambeine und 40 Prozent unerkannte Risse im Beckenbodenmuskel hatten, die oft zu Harn- und Stuhlinkontinenz führen. Weitere Untersuchungen ergaben, dass 25 Prozent der Frauen noch 18 Monate nach der Geburt Schmerzen beim Sex haben, fast 80 Prozent klagen über Rückenschmerzen und 50 Prozent der Frauen sind inkontinent. Was ist der Grund für diese lang anhaltenden Beschwerden? Fehldiagnosen, verspätete Diagnosen, falsche Behandlung sowie Vernachlässigung und Diskriminierung durch das Gesundheitssystem einerseits. Nicht selten fehlt den sogenannten SpezialistInnen eine gute Ausbildung zum Erkennen der Geburtsverletzungen. Vor allem aber wird das Leiden der Frauen – wie schon bei den Hysterikerinnen – emotionalisiert, ihr Schmerz wird weniger Ernst genommen. Die gesellschaftliche Vorstellung, dass Schwangerschaft und Mutterschaft per se gut seien (und Frauen von Natur aus empfindsam sind), wird bis in die Gegenwart in den weiblichen Körper eingeschrieben.
 
Zugleich wird aus der Biologie der Frau aber auch ein bestimmtes Verhalten abgeleitet; Eine Natur wird zur vermeintlichen Ursache von Gesellschaftlichem erklärt. Das Prämenstruelle Syndrom (PMS) kann als ein Relikt der alten Vorstellung von der Hysterischen gelesen werden. Nicht nur das Gegenüber, sondern auch die Frau selbst fragt sich bei Symptomen wie Überempfindlichkeit und Gereiztheit oft als erstes, ob der Zyklus schon wieder PMS schreit. Dabei könnten die Ursachen ganz andere sein, sie könnte einfach einen schlechten Tag haben, gerade grundsätzlich unter viel Stress leiden oder körperlich angestrengt bis ungesund sein. Stattdessen macht sich das alte Verhalten, die Stimmung der Frau an ihre Biologie zu binden, bemerkbar; undenkbar, dass der cholerische Ausbruch eines Mannes mit »hormonellen Schwankungen« erklärt würde. Das bedeutet nicht, zu leugnen, dass es etliche Frauen gibt, die PMS als eine große, immer wiederkehrende Belastung auf physischer und psychischer Ebene erfahren. Es ist einleuchtend, dass eine Frau gereizt ist, wenn sie das Gefühl hat, ihre Eierstöcke explodierten jeden Moment. Ob man diese Phänomene in die Nähe von Syndrom, Symptom und Krankheit rücken sollte, ist aber mindestens streitbar. Die Frau bleibt ein vernunftbegabtes Wesen, auch vor und während ihrer Menstruation. Ihr irrationales Verhalten zu unterstellen, erinnert gerade deshalb an die gute alte Zeit der Hysterie. Noch immer wird die Frau festgelegt auf einen spezifisch weiblichen Körper, der sich nur schwer von ihr selbst kontrollieren lässt, der – umgekehrt – ihr Wesen kontrolliert. Es kann kein Zufall sein, dass die sogenannten Symptome, die mit PMS in Zusammenhang gebracht werden, nicht nur denen der Hysterie gleichen, sondern manchmal auch ebenso widersprüchlich sind. Die heute gültige Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD-10) gibt dem Phänomen unter der Kategorie »N94 – Schmerz und andere Zustände im Zusammenhang mit den weiblichen Genitalorganen und dem Menstruationszyklus« einen Namen und generiert damit ein echtes Highlight: »Nicht näher bezeichneter Zustand im Zusammenhang mit den weiblichen Genitalorganen und dem Menstruationszyklus«. Die englische Version verhandelt den biologisch bedingten Zustand als »unspecified disorder« und lässt damit außer Zweifel, dass es sich um eine Fehlfunktion handelt.
 
Dieses Bild wird selbst von Frauen völlig verinnerlicht. Es mag auch für sie entlastend sein, in dieser viel zu leicht identifizierten Fehlfunktion, die Ursache ihrer Verstimmungen zu sehen und nicht weiter darüber nachzudenken. Nicht einmal darüber, wie viele Tage vor der Menstruation das Phänomen eigentlich noch prä- ist und wo es streng genommen post- wäre – oder schlicht ein schlechter Tag, eine berechtigte Empörung, wenn man davon abrücken könnte, die Frau nur als Getriebene ihres Zyklus zu inszenieren.
 
Andererseits ist PMS vielleicht gerade ein Mittel, um die Frauen den größten Teil der Zeit zu disziplinieren, sie nett und zuvorkommend zu halten, und ihr nur diese ein bis zwei Tage schlechter Laune und Gereiztheit zuzugestehen. PMS erlaubt die Ausnahme von der Regel, um die Norm zu stabilisieren. So wie der Ausnahmezustand Karneval die Sau aus den Menschen herausholt, sie aber den Rest des Jahres weitgehend beschwichtigt, und das seit hunderten von Jahren. So wie das streitbare Ritual Junggesellenabschied in männlicher und weiblicher Variante, das den Damen und Herren ein letztes Mal gestattet, es richtig krachen zu lassen, ehe sie in die Kontrollzone Ehe einziehen. Verbotene versus verordnete Stimmungsschwankungen also, Wochenbettdepression und PMS. Auch wenn die Hysterie im fortschreitenden 20. Jahrhundert als Diagnose immer unhaltbarer wurde – Mittel zur Manipulation und Disziplinierung der Frau sind geblieben, sie sind schlicht subtiler geworden. Abschied von Uteromania sieht anders aus."
 
"(...) Man setzt sich nicht mit der Sache auseinander, sondern diffamiert einfach die Person, die sie vertritt.
 
Die Hexen hatten eins gemeinsam: Sie sind Frauen ohne Mann.
 
Ich stehe in der Bundesrepublik ja als symbolische Figur öffentlich für das, was viele von uns engagierten Frauen tagtäglich erleben, nur bei mir kann man es dann eben manchmal auch in der Zeitung lesen. Für uns Feministinnen kommt zum Hexenklischee noch das Suffragettenklischee. Bei den Suffragetten ist es nicht anders als bei den Hexen. Wer da mal genauer hinschaut, sieht: Diese Suffragetten sind nicht ein paar alte schrullige Tanten mit komischen Kapotthütchen, die keinen Mann abgekriegt haben und nichts besseres zu tun hatten, als in London oder auch Berlin die Straße rauf und runter zu laufen fürs Wahlrecht, sondern das waren Frauen, die zum Teil ihr Leben riskiert haben mit Hungerstreiks in Gefängnissen, mit sehr militanter Gegenwehr, die sich anketteten, gegen die Polizei kämpften - kurzum, die nicht mehr und nicht weniger getan haben, als für die Menschenrechte der Frauen zu kämpfen und dafür ihr Leben riskierten. Nun ist die Frage: Waren die Hexen überhaupt solche Kämpferinnen? Ich habe die Bücher der Historikerinnen, der Hexen-Expertinnen gelesen, das hat mich ein bisschen kundiger gemacht. Bei allen Unterschiedlichkeiten, verschiedenen Herangehensweisen und Differenzierungen der Hexen-Forscherinnen belegen doch alle, dass die Frauen, die verfolgt, gefoltert, getötet worden sind als Hexen, in ihrer klischeehaften Darstellung immer eins gemeinsam haben: Sie sind Frauen ohne Mann. Und sie tun sich zusammen mit anderen Frauen.
Eines der ganz zentralen Vergehen, das signalisiert, dass man es hier mit den Spezies Hexen zu tun hat, ist also die Infragestellung der männlichen Potenz, der männlichen Macht, also des Mannes schlechthin.
 
Im Hexenhammer lautet die Überschrift von Kapitel 9: "Ob die Hexen durch gauklerische Vorspielungen die männlichen Glieder behexen, so dass sie gleichsam aus den Körpern gänzlich herausgerissen sind." - Ihr kennt vielleicht die moderne Variante: "Schwanz-ab-Schwarzer"! Also die paar Zentimeter liegen den Herren doch noch immer sehr am Herzen, in denen scheint sich in der Tat einiges zu konzentrieren. Jede Frau, die denen nicht die gebührende Reverenz erweist, ist eine Hexe, gestern wie heute. (...)
 
Die Hexen-Forscherinnen weisen immer wieder darauf hin, dass die Frauen, die verfolgt worden sind, in sehr unterschiedlichen Situationen waren. Manchmal waren es Frauen aus dem Volk, die einfach zwischen die Mühlsteine geraten sind. Oder es waren, wie in Köln die Henoth, Patrizierinnen, die den Männern nicht in ihre Geschäftsinteressen gepasst haben. Oder sie waren Opfer persönlicher Racheakte von einzelnen Männern. Oder die Hexenverfolgung war eben Ausdruck der Gesamthysterie und hat mehr oder weniger wahllos diese oder jene getroffen. Eines zieht sich jedoch mehr oder weniger durch alles: Die als Hexen verfolgten Frauen waren in der Realität oder in der Phantasie unbequem für das herrschende Geschlecht. Sie irritierten, sie störten die bestehende Ordnung.
 
Die ist verrückt. Die gehört ins Irrenhaus.
Eine moderne Variante der Hexenverfolgung ist die Psychiatrisierung von Frauen. Wir alle kennen das, auch bei uns selbst, bei unseren Müttern. Es hängt über allen Frauen wie ein Damoklesschwert: "Die ist verrückt. Die gehört ins Irrenhaus." - Es gibt eben viele Methoden, Menschen zu entmenschlichen und auszusondern, die modernen sind subtiler, aber nicht weniger effektiv: die Psychiatrie ist oft nicht viel besser als der Hexenturm.
 
Es war ja historisch nicht so, dass es nur die "weisen Frauen" getroffen hätte, die Hebammen und Heilkundigen zum Beispiel Querbeet, ohne Gesetzmäßigkeit bedrohte die Hexenverfolgung mal diese Frau und mal jene, also eigentlich alle. Das war nur scheinbar eine ganz irrationale Sache, ganz wie die antisemitischen Pogrome. Unterm Strich allerdings scheint mir das überhaupt nicht irrational: Das ist die Logik des Patriarchats.
Die Logik des Patriarchats ist die allgemeine Einschüchterung und allgemeine Verunsicherung und allgemeine Bedrohung aller Frauen: Es kann jederzeit jede treffen!
Dieses für alle Frauen einschüchternde und bedrohliche Klima wird immer dann geschaffen, wenn das Patriarchat sich bedroht fühlt. (...)
 
Ihr habt vielleicht im jüngsten Stern das Cover zum Thema Video gesehen: eine nackte Frau mit gespreizten Schenkeln, zwischen den Schenkeln ein Bildschirm mit geöffnetem Mund. Aber dieser einfache Sexismus genügt noch nicht, dabei kriegen die Jungs keinen mehr hoch. Dazu muss noch ein Schlag Rassismus. Vorletztes Stern-Cover: eine schwarze Frau von vorne, nackt, hinter ihr der weiße Kolonialherr, der ihr an den Busen greift, natürlich zwei Köpfe größer, wie das so ist bei Herren. Titelzeile: "Was jeder Urlauber beim Sextourismus wissen muss". So hundsnormal ist die Erniedrigung und Entwürdigung von Frauen, dass, "Jeder Urlauber" sie sich erlauben kann. Übrigens auch in den sogenannten "Alternativreiseführern" findet ihr ganz lässige Alternativtips, wo mann die Mädels besonders billig kriegt, wo sie auch noch nicht ganz so abgegriffen sind, noch ein bisschen Seele haben, sodass man noch ein bisschen nett mit ihnen plaudern kann. (...)
 
Zentral ist für mich als Frau im Patriarchat das Ziel, es ganz einfach unmöglich zu machen, dass Frauen auch heute noch zu "Hexen" deklassiert werden. Denn "die Hexe", das ist kein himmlisches Geschöpf mit esoterischen Mächten, sondern eine sehr irdische Frau, die auf ganz weltliche Art zum Opfer gemacht wird. Und Opfer waren wir Frauen lange genug! (...)"
 
"(...) Es lohnt sich, einmal die Elemente genauer anzuschauen, aus denen sich das Bild von der guten Mutter im 19. und frühen 20. Jahrhundert zusammengesetzt hat:
 
1. Frauen sind in erster Linie und vor allem anderen Mütter. Mutter zu werden ist das höchste Ziel ihres Lebens, und es füllt sie als Lebensinhalt vollkommen aus. Eine Frau, die sich anderes vom Leben wünscht als die Mutterschaft, ist keine richtige Frau; sie verkümmert in ihrer Weiblichkeit.
2. Mutterliebe ist naturgegeben, im Instinkt verhaftet und stellt sich automatisch infolge der biologischen Mutterschaft ein. Jede Mutter liebt ihre Kinder - und zwar alle gleichermaßen. Eine Frau, die ihre Kinder nicht liebt, muss krank oder sonst wie abartig sein - sie ist keine richtige Frau.
3. Mutterliebe äußert sich darin, dass der Mutterschaft alle anderen Lebensinhalte untergeordnet oder aufgeopfert werden. Mutterschaft und andere ehrgeizige individuelle Lebensziele schließen einander aus. Eine Frau kann nicht Mutter und noch etwas anderes zugleich sein. Eine Mutter, die noch andere Interessen hat als das Wohl ihrer Kinder (und ihres Mannes), die nicht ihre ganze Erfüllung in der Mutterliebe findet, ist egoistisch und eine schlechte Mutter.
4. Mutterliebe ist selbstlos und aufopfernd. Mütter lieben ihre Kinder, ohne im Gegenzug etwas dafür zu verlangen.
 
Der Mythos von der guten Mutter erhielt im nationalsozialistischen Deutschland noch einmal kräftigen Aufwind. Die Nazis werteten vor allem die physische Mutterschaft auf: Eine Frau ohne Kinder galt als verächtliches Kümmerwesen, die Mutterschaft als der eigentliche und höchste Beruf der Frau. Je mehr Kinder sie zur Welt brachte, desto besser.
 
Eine Frau ohne Kinder galt als verächtliches Kümmerwesen
Ein extremer Ausdruck dieses Mutterkultes war das Mutterkreuz: Frauen mit mehr als vier Kindern bekamen es in Bronze, mit mehr als sechs Kindern in Silber, mit mehr als acht Kindern in Gold. Frauen, die mehr als neun Kinder (oder mindestens sieben Söhne!) zur Welt brachten, konnten sich prominente Staatsmänner, wie etwa Hindenburg oder Hitler, zu Paten wählen. Die Jugendlichen im BDM und in der HJ waren angehalten, Frauen mit Mutterkreuz zu grüßen. (...)
 
"Durch die Psychoanalyse wird die Mutter zur ‚Hauptverantwortlichen' für das Glück ihres Sprösslings befördert", kommentiert Elisabeth Badinter, und "...von der Verantwortung zur Schuld war es nur ein kleiner Schritt".
 
Die Mutter, so weiß man jetzt, ist unersetzlich, Mütterverlust in der frühen Kindheit eine schreckliche Erfahrung, die Mutterliebe das Lebenselixier für die Entfaltung des kleinen Menschen. Doch mit dieser Verbeugung vor der einzigartigen Bedeutung der Mutter ist zugleich auch der Grundstein für ihr massives Schuldgefühl gelegt - für ein nagendes Gefühl permanenten Ungenügens, unter dem die Frauen unserer Zeit weitaus stärker leiden als die Frauen früherer Jahrhunderte.
 
So gibt es kaum einen Erfahrungsbericht junger Mütter von heute, in dem das Wort "Schuldgefühl" nicht mit schöner Regelmäßigkeit wiederkehrt. Die Frauen haben Schuldgefühle, wenn ihr Kind schreit, wenn es an der Brust nicht genug trinkt, wenn sie zu früh abstillen, wenn ihnen das Stillen Schmerzen bereitet oder lästig ist, wenn sie nicht immer geduldig und freundlich auf ihr Kind eingehen, wenn sie es zeitweilig jemand anders überlassen, wenn es mal unausgeglichen oder quengelig ist, wenn es sich nicht optimal entwickelt, wenn es aggressiver, schüchterner, weniger intelligent, weniger liebenswert ist als anderer Leute Kinder oder als ihre eigene Idealvorstellung. Sie fühlen sich für ihr Kind verantwortlich, für all das, was es tut und ist, denn das Kind ist ihr Produkt - nicht nur vor ihnen geboren, sondern auch Produkt ihrer erzieherischen Bemühungen. (...)
 
Aber das bedeutet keineswegs das Ende des Muttermythos. Im Gegenteil: Frauen können heute leben, wie sie wollen - aber nur, solange sie keine Kinder haben. Entschließen sie sich aber, Mütter zu werden - dann sind sie mehr denn je der Mutter-Ideologie unterworfen. Früher standen die Frauen unter dem Druck, unbedingt Mutter werden zu müssen ("eine kinderlose Frau ist keine richtige Frau") - heute stehen sie, wenn sie Mütter sind, unter dem Druck, eine "gute Mutter" sein zu müssen. "Ängste und Schuldgefühle der Mütter", erklärt Elisabeth Badinter, "sind nie so groß gewesen, wie heute."
 
Die 80er Jahre waren geprägt von der "Neuen Mütterlichkeit": Viele Frauen ließen sich bewusst und zum Teil sehr euphorisch auf die Mutterschaft ein. Sie wollten liebevolle und einfühlsame Mütter sein, die ihren Kindern alles geben, was sie brauchen, um sich zu selbst bestimmten glücklichen Menschen zu entwickeln. Alice Miller führte in ihrem viel gelesenen Buch "Das Drama des begabten Kindes" , 1979, dem ersten in einer Reihe populärwissenschaftlicher psychologischer Bücher, ihrem Publikum eindringlich vor Augen, wie eine gleichgültige oder unzufriedene Mutter ihr Kind daran hinderte, sein "wahres Selbst" zu finden.
 
Nahezu alle Leserinnen erkannten sich in dem "begabten Kind" wieder, dem die anerkennende Unterstützung der Mutter gefehlt hatte. Und keine wollte ihrem Kind eine solche Mutter sein. In dieser Zeit nahmen die Anforderungen an die gute Mutter noch extremere Ausmaße an.
Jean Liedloff pries in ihrem Bestseller "Auf der Suche nach dem verlorenen Glück" (dt. 1980) die Praxis der Eingeborenenfrauen Venezuelas, ihre Säuglinge und Kleinkinder ständig im Tragetuch mit sich herumzutragen. Der andauernde Körperkontakt verschaffe ihnen ein Maximum an Geborgenheit und lege das Fundament für ein Gefühl lebenslanger Sicherheit.
 
Barbara Sichtermann ("Vorsicht, Kind", 1982) empfahl den Müttern, sich als  "Forschungsassistentinnen" ihrer Kleinkinder zu verstehen, die Kleinen in allen ihren Welterkundungsgelüsten gewähren zu lassen, dabei vorsichtig im Hintergrund zu bleiben, dem Kind stets die Initiative zu überlassen und an allen seinen kleinen Unternehmungen Interesse zu zeigen, möglichst nie in Eile zu sein und zu vermeiden, dem Kind das eigene, an beruflichen oder häuslichen Notwendigkeiten orientierte hektische Tempo aufzuzwingen.
 
Es ist auf den ersten Blick einsichtig, dass ein solcher Erziehungsstil die ständige Präsenz eines Erwachsenen verlangt, und das heißt gewöhnlich: die Eins-zu-Eins-Betreuung durch die Vollzeitmutter, die sich ganz auf das Kind einstellt, ihm ganz zur Verfügung steht. Selbst die Erledigung von Hausarbeit für einen Dreipersonenhaushalt ist unter solchen Bedingungen nicht ganz einfach.
Man kann bügeln, während ein Kind im Laufställchen spielt; aber das geht nur mit einem gewissen Risiko, wenn es frei im Raum herumkrabbelt. Also muss die Mutter viele Arbeiten auf Zeiten verschieben, zu denen das Kind schläft. Ein so extrem an den kindlichen Bedürfnissen orientierter Stil setzt außerdem voraus, dass man nur ein einziges Kind unter drei Jahren zu betreuen hat; zwei oder drei würden unter diesen Bedingungen übermenschliche Kräfte verlangen - der bloße Versuch, diesem Ideal zu genügen, kann Frauen in Verzweiflung und an den Rand der Erschöpfung treiben, wie wir aus vielen Erfahrungsberichten wissen.
Nicht einmal die Kräfte einer Vollzeitmutter reichen aus, ein Kind in diesem Stil ganz allein 24 Stunden am Tag zu betreuen. Konsequenterweise müssten nicht nur der Vater, sondern auch andere Betreuungspersonen her, um Schichtdienst beim Kind zu übernehmen.
 
Woher kommt die Wende hin zur "Neuen Mütterlichkeit"?
Wie kommt es, dass den Müttern immer neue und immer weitreichendere Verantwortung für ihre Kinder aufgebürdet wird? Wie kommt es, dass sie diese meist bereitwillig übernehmen? Woher kommt die Wende zur "Neuen Mütterlichkeit", die in der jüngsten Vergangenheit Mutterschaft noch einmal aufgewertet, dabei aber zugleich noch viel anspruchsvoller und schwieriger gemacht hat? Woher die neue verbreitete Begeisterung für Schwangerschaft, Gebären und das Leben mit kleinen Kindern, während es objektiv immer schwieriger wird, Kinder großzuziehen? Wie verträgt sie sich mit der Tatsache, dass die Frauenerwerbstätigkeit immer selbstverständlicher wird und die Geburtenrate auf einem niedrigen Niveau stagniert? (...)
 
Heute stehen Frauen vor dem inneren Zwang, nicht nur Kinderlosigkeit, sondern auch das Muttersein vor sich selbst zu begründen. Die bloße Tatsache, dass ihr Leben anders verlaufen wäre, wenn sie keine Kinder bekommen hätten, zwingt ihnen die Frage auf: Ist das, was du jetzt hast, besser/richtiger/wichtiger als das, was gewesen wäre, wenn du anders entschieden hättest? Der Rechtfertigungszwang wird noch größer, wenn Frauen ihr Leben mit dem anderer Frauen, Freundinnen, Schwestern vergleichen können, die den anderen Weg gewählt haben, und er gewinnt noch dadurch an Gewicht, dass die Entscheidung für Kinder zwar einigermaßen "frei" getroffen werden kann, aber anschließend nicht mehr umkehrbar ist.
 
Die neue Aufwertung der Mutterrolle ist eine Begleiterscheinung des Rechtfertigungszwangs, den die Wahlfreiheit hervorgebracht hat. Frauen, die gerade Mütter geworden sind, stehen vor der inneren Notwendigkeit, sich selbst davon zu überzeugen, dass es auf jeden Fall gut so und jedes notwendige Opfer wert ist. Sie müssen und wollen der Mutterschaft in ihrem Leben höchste Priorität einräumen - wie sonst sollten sie mit den hohen psychischen und sozialen Kosten fertig werden, die ihnen die Gesellschaft als Mutter aufbürdet? (...)
 
Vielleicht sind Kinder sehr viel robuster, als man heutzutage denkt, sehr viel weniger zerbrechlich und beeinflussbar. Vielleicht ist es vollkommen ausreichend, ihnen ein Umfeld von mehreren, im Prinzip wohlmeinenden Personen, Kindern und Erwachsenen, zu verschaffen, ihnen ein bisschen Struktur zu geben und innerhalb dieser Struktur Freiräume zu lassen. (...)"
 
"Ermutigung für Frauen

Roswitha Burgard: Frauenfalle Psychiatrie. Wie Frauen verrückt gemacht werden. Mit einem Vorwort von Michaela Huber. Orlanda Frauenverlag, Berlin, 2002, 200 Seiten, 15,50 A

Westeuropäische Frauen tragen zwar keine Burka, viele sind trotzdem nicht frei, stark und selbstsicher. Viele tragen einen unsichtbaren Schleier der Trauer, Resignation und Verzweifelung, denn auch in Europa werden Frauen terrorisiert, vor allem in Familien und Partnerschaften. Gedemütigt und missbraucht wachsen Mädchen auf, die verstört, verunsichert und für das Leben gezeichnet manchmal, wenn sie nicht „spuren“, in der Psychiatrie landen. Die schrecklichste Form der Traumatisierung ist die sexuelle Gewalt, die auch die schwerwiegendsten Folgen nach sich zieht. Dennoch wird diese Gewalt oft nicht für wahr gehalten. So ist die Lebensrealität der Frau immer noch durch Machtlosigkeit, Abwertung und Missachtung gekennzeichnet.

Die Sozialisation der Frau, Geschlechterrollenstereotypen sowie das Machtgefälle in Familie, Schule, Universität, Beruf, psychiatrischen Einrichtungen und der Zusammenhang zwischen weiblichen Lebensbedingungen und psychischen Erkrankungen und wie Frauen in die „Falle“ Psychiatrie geraten, werden aufgezeigt. Dazu stehen der Autorin viele Beispiele aus ihrer therapeutischen Praxis zur Verfügung.

Das Buch – spannend zu lesen – soll Frauen ermutigen, sich aus der Zwangsjacke der „richtigen“ weiblichen Lebensführung zu befreien, sich nicht für verrückt erklären zu lassen. Nicht nur für Psychiater und Psychologen, sondern auch für die in der Allgemeinpraxis tätigen Ärzte ist das Buch lesenswert und für die Erkenntnis der genannten Zusammenhänge sehr zu empfehlen."
 
"(...) Wie kommt es, dass der Staat über bestimmte Individuen eine solch außergewöhnliche Macht besitzt? Wo und weshalb hat unser Schutzsystem versagt? Es heißt, diese Personen seien von einer seltsamen, schrecklichen Krankheit befallen, weshalb sie gewaltsam zu behandeln seien. Daher müsse das Gesetz denen dienen, die sich mit dieser Krankheit auskennen. Gesetzliche Bestimmungen seien erforderlich, um Zwang ausüben zu können. Doch die Befugnis, diese Bestimmungen umzusetzen, liegt nicht beim Gesetz oder bei den JuristInnen, sondern bei einer anderen Gruppe von Fachleuten, denen das Gesetz zu dienen habe. Diese müssten ihre PatientInnen einsperren und ihrer Entscheidungsfreiheit berauben, was den ersten Schritt zu ihrer Heilung darstelle.
 
Lassen Sie uns den Begriff der Zwangsbehandlung einmal näher betrachten. Warum wird behandelt? Wegen merkwürdiger Handlungsweisen, zu lauten Redens, wegen Wut, Stress oder irrationalen Verhaltens, wegen Anstößigkeiten? Offensichtlich beziehen wir uns hier auf das Gesetz, nicht auf die Medizin. Hat diese Person einer anderen etwas zuleide getan, den Frieden gestört, jemanden gewaltsam angegriffen? Zuständig hierfür ist die Justiz. Wie kam die Medizin ins Spiel? Man sagt uns dann, es wurde zwar gegen kein Gesetz verstoßen, aber die Nachbarn beschwerten sich, die Familie sei aufgebracht. Es könnte ein Verbrechen geschehen. Unsere Gesetze erlauben es nicht, jemanden vorsorglich zu verhaften oder einzusperren. Es könnte ein Verbrechen geschehen ... aber tatsächlich wurde keines begangen. Stattdessen geht es um anstößiges Verhalten, lediglich allgemein beschrieben, nicht einmal mit eigenen Augen gesehen. Die Person ist nicht kriminell, sondern Opfer einer seltsamen Krankheit, die nur gegen den eigenen Willen geheilt werden kann. (...)
 
Im Bereich der somatischen Medizin ist Zwangsbehandlung nicht zulässig; das übliche Verhältnis zwischen Arzt und Patient basiert auf Übereinkunft, Kooperation, Unterstützung und Trost. Wesentliches Merkmal einer solchen Behandlung ist die Freiwilligkeit. Die Idee der Zwangsbehandlung ist derart absurd, ist medizinisch, juristisch und moralisch derart schwer zu rechtfertigen, dass man sich auf geheimnisvolle Umstände berufen muss.
 
Dem Übeltäter bzw. der Übeltäterin soll ein Behandlungsplan aufgezwungen werden. Es gibt ›interessierte Parteien‹ und Angehörige, die ein persönliches Interesse an Kontrolle haben und die für ihr feindseliges Vorgehen gegen den einzelnen auffälligen Menschen sozialen Konsens sowie Billigung und Beistand anstreben. Sie brauchen nur zum Telefon zu greifen. Die Gesellschaft ist dafür gerüstet, einen Menschen zu ergreifen und einzusperren, zu bestrafen und all seiner Rechte zu berauben. Aber noch bedarf es einer ›vernünftigen‹ Erklärung, eines Etiketts, einer Anklage, die ins Gewicht fällt. Verrücktheit genügt all diesen Anforderungen, ebenso wie Ketzerei oder politische Subversion. Gedankenverbrechen.
 
Zuständig hierfür ist heutzutage die Psychiatrie; sie ist der ausführende Arm sozialer Gewalt, ausgestattet mit staatlichen und polizeilichen Machtmitteln, mit Schloss und Riegel, Psychopharmaka und Folterinstrumenten. Sie verkörpert eine bestimmte Vorstellung, nämlich die Annahme, das Individuum sei Träger einer unsichtbaren Krankheit oder erblichen Belastung, die zwar pathologisch nicht nachweisbar ist, aber von ExpertInnen aufgespürt und unter Anwendung von Zwang geheilt werden kann. Durch allgemeine Zustimmung, Werbung und Propaganda gewinnt diese Vorstellung Oberhand; das Ansehen der Wissenschaft lässt sie glaubwürdig erscheinen, und die Staatsgewalt mit der überwältigenden Fülle ihrer Zwangsmittel legitimiert sie.
 
Die Psychiatrie, die sich selbst als Teilbereich der Medizin bezeichnet, wird zwangsläufig zum Mittel außergesetzlicher sozialer Kontrolle und staatlicher Macht, mit Befugnissen, die das Recht und all seine Garantien für das Individuum außer Kraft setzen, vielleicht sogar dem Gesetz widersprechen. Die garantierten Rechte, Ergebnis einer Jahrhunderte währenden Entwicklung, werden in bestimmten Fällen aufgehoben. Der Staat erlaubt der Familie, ihr Objekt der Unterdrückung selbst zu wählen. Als Bevollmächtigte des Staates bedient sich die Familie wiederum der Psychiatrie, denn das letzte Wort hat der Psychiater. Wollen Sie eine Verwandte einsperren, so müssen Sie immer noch einen gefälligen Arzt finden – letztlich entscheidet er. Die Tatsache jedoch, dass Familien ein Opfer präsentieren können, ist allein schon erstaunlich, eine informelle soziale Kontrolle.
 
Wir alle glauben doch an diese geheimnisvolle Macht, diese Krankheit, diese psychische Störung. Es kann passieren, dass Ihr Verstand einfach aufgibt, Ihre Gefühle Sie überwältigen, Sie einer konstitutionellen Schwäche unterliegen. Unsichtbare Kräfte zwingen Sie in die Knie. Und der Glaube ist alles. Glaube versetzt Berge. Man muss ihn nur ausweiten und propagieren, institutionalisieren, finanzieren, bürokratisieren, in einen blühenden Industriezweig verwandeln – Spender von Hunderttausenden von Arbeitsplätzen und ›Diensten‹.
 
Das System würde ohne Zwang nicht funktionieren. Wie jedes System sozialer Kontrolle basiert es letztlich auf roher Gewalt. Es gründet auch auf einer Ideologie. Hier ist die Ideologie – das medizinische Modell psychischer Krankheit – eine Perversion von Vernunft und Wissenschaft.
Viele PsychologInnen und PsychoanalytikerInnen stimmen vermutlich der Auffassung zu, dass es sich beim medizinischen Krankheitsmodell um eine irreführende Analogie handelt, denn sie gehen davon aus, dass psychisches Leiden von Konflikten des Individuums mit seinem Umfeld herrührt, ob sie nun durch die persönliche Geschichte oder die gesellschaftlichen Verhältnisse bedingt sind. Mit anderen Worten, das Leben ist nicht leicht. Der Tod ist nur schwer zu verkraften, ebenso Trauerfälle, das Ende einer Liebe, vergebliche Liebesmüh, schwere wirtschaftliche Zeiten, Verlust des Arbeitsplatzes, verpasste Chancen, die verbitternde Anhäufung von Enttäuschungen aller Art. Dies ist ein Wirklichkeitsmodell, welches von Tatsachen ausgeht.
Das medizinische Modell dagegen hat keinerlei Bezug zu irgendeiner Realität, es ist nicht einmal medizinisch, obwohl es vom Ansehen der Körpermedizin profitiert und die Existenz physischen Leidens nutzt, um uns an der Nase herumzuführen und einen allgemeinen gesellschaftlichen Konsens zu erzwingen, legal oder am Gesetz vorbei. Letzten Endes handelt es sich um einen gesellschaftlichen Mythos, der über den Akt des Unterbringungsverfahrens sowohl dem Staat als auch der Psychiatrie enorme Macht überträgt.
 
Es gibt kaum Länder, in denen nicht formell oder informell, öffentlich oder privat die Vorstellung von der Existenz psychischer Krankheit und deren Pendant der psychischen Gesundheit Bausteine des Glaubenssystems geworden sind. Psychische Krankheit ist ein Haushaltstitel der Regierung, ein Ministerium, eine Verwaltungsabteilung, eine Unterabteilung jeder Bürokratie auf bundesstaatlicher, Länder-, Kreis- und kommunaler Ebene. (...)
 
Einige Menschen stellen sich vor, dass psychische Krankheit wie eine Lungenentzündung diagnostiziert werden kann, epidemisch wie AIDS auftritt und wie Krebs potentiell erkennbar und irgendwann auch heilbar sein wird. Unsere gemeinsame Überzeugung von der Existenz psychischer Krankheit ist mysteriös und wunderlich. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts und nach mehreren Jahrhunderten wissenschaftlicher Entdeckungen und dem Triumph wissenschaftlicher Erkenntnisse bleibt sie durch und durch glaubensbedingt und unwissenschaftlich. Wir glauben einfach daran, ohne jeden Beweis für das, was wissenschaftlich unter Krankheit zu verstehen ist. Damit meine ich die Pathologie. In der Medizin gibt es keine Störung oder Erkrankung ohne Pathologie, und pathologische Veränderungen sind etwas, was beobachtet und nachgewiesen werden kann. Körpermedizin und Wissenschaft überhaupt beruhen größtenteils auf Beweisen. Es gibt Erreger, es gibt Bluttests, es gibt Antikörper, es gibt Schwellungen und Körperflüssigkeit, es gibt Ödeme und Zelldeformation. Es gibt Erkrankungen des Gehirns und des Nervensystems, deren Existenz nachgewiesen werden kann: Tumore, Lähmungen, Alzheimerkrankheit, Chorea Huntington. Dies sind wirkliche Krankheiten, tatsächlich nachweisbar.
 
Wenn wir jedoch von psychischer Krankheit sprechen, meinen wir eine Vielzahl sogenannter Krankheiten, für die keine pathologischen Vorgänge nachgewiesen sind, auch wenn man schon über hundert Jahre an sie glaubt. Schizophrenie ist die bedeutendste psychische Krankheit, gefolgt von manisch-depressivem Irresein. Gleichzeitig ist man sich selbst unter Psychiatern über deren eigentliche Existenz nicht immer einig. Und innerhalb der klassischen Psychologie fällt der Nachweis von Krankheiten oder Störungen auch nicht leichter, denn es gibt in der Psychologie kein Verfahren, mit dem man Krankheiten nachweisen kann. Es gibt nur das Verhalten.
 
Jemanden für psychisch krank zu erklären, weil er bzw. sie auf eine bestimmte Art handelt oder sich verhält, ist etwas völlig anderes, als eine Krankheit festzustellen, für die es physiologische Anhaltspunkte gibt. Verhalten als Indiz für eine Krankheit ist kein objektiver Tatbestand – es ist darüber hinaus auch deswegen subjektiv, weil Verhalten eine Sache von Beobachtung und Interpretation ist. Kurz gesagt, was für den einen Menschen verrückt ist, ist für den anderen erklärbar, ja sogar vernünftig. Was dem einen abscheulich ist, hält der andere lediglich für schlechte Manieren, und ein Dritter mag das Verhalten sogar witzig finden. Das Urteil hängt davon ab, wer beobachtet, mehr noch von der Haltung, die der Beobachtung zugrunde liegt: Eigennutz, Boshaftigkeit, ein Hang zur Zwangsausübung, Wut, Missbilligung, das Bedürfnis andere zu kontrollieren, zu strafen, zu erniedrigen.
 
Mit der Lungenentzündung ist es anders: Wir haben sie oder wir haben sie nicht. Und wenn wir sie haben, wollen wir eine Behandlung. Wenn wir beschuldigt werden, psychisch krank zu sein, stehen wir unter Anklage, sind Opfer einer Verleumdung, sind in Verteidigungsposition und unfähig, uns selbst zu verteidigen gegen einen Vorwurf, dessen pure Existenz unsere Schuld beweist. Anders bei der Lungenentzündung: niemand wird vorgeladen, um die Erkrankten vor Gericht anzuklagen und einen Richter davon zu überzeugen, dass die PatientInnen schuldig sind, da sie voller Keime stecken. Wir werden nicht isoliert und vor FreundInnen gedemütigt, verlieren nicht die Arbeit und das Sorgerecht für die Kinder. Lungenentzündung tut keinem Menschen so etwas an.
 
Die Vorstellung von psychischer Krankheit ist simpel: Man nehme psychisches Leid als Beweis für eine Krankheit, auf die nur eine hochspezialisierte und gutbezahlte Gruppe von Heilern – fast schon eine Priesterschaft – einwirken kann. Und man sei nicht sparsam mit drastischen Maßnahmen. Man benutze Psychopharmaka, Grausamkeit und Schrecken, Einkerkerung und elektrischen Strom für das Gehirn. Bloße Gesprächstherapie ist zu einfach, so wie auch Gespräche, Freundschaft oder Beratung zu primitiv sind, braucht man dazu doch weder Rezept noch Lizenz.
 
Menschliches Elend, Ungewissheit, Lebenskrisen, die schmerzhaften Prozesse, durch die wir uns voneinander trennen, wachsen, Neues schaffen, uns verändern oder Entscheidungen treffen ... all das sind Zeiten der Verwundbarkeit. Von Seiten unserer Umwelt oder aus unserem Inneren regt sich Widerstand. Wir sind uns unserer selbst unsicher, als Mann oder als Frau, als Liebende, Bruder oder Schwester, Kinder oder Eltern; wir können verwirrt sein, überwältigt, beschämt, eingeschüchtert, geschwächt oder erniedrigt. Ganz besonders dann, wenn wir davon überzeugt wurden, die eigenen Gefühle, Reaktionen und Beweggründe nicht zu kennen, die eigene Urteilskraft unzuverlässig und unsere psychischen Prozesse falsch zu finden. Dann erkläre man das Menschsein an sich zum medizinischen Problem, definiere die Psyche als eine Abfolge von mysteriösen Unwägbarkeiten und behaupte, es handle sich um ein chemisches Konstrukt von unsicherem Gleichgewicht, um ein Rätsel, dem wir ausgeliefert sind. Nur die Psychiatrie kann diese instabile Mixtur in Ordnung bringen – mit Psychopharmaka, deren Wirkungsweise nicht einmal die Doktoren verstehen, von denen sie aber behaupten, dass sie uns nicht schaden.
 
Wir haben es hier mit Stigmatisierung und Zwang zu tun, mit Staatsgewalt und Kontrolle und mit multinationalen Pharmakonzernen, die bereitstehen, ihre Profite aus der Zwangsverabreichung psychiatrischer Psychopharmaka an die Opfer dieser mysteriösen Krankheiten zu ziehen, und zwar sowohl wenn diese gegen ihren Willen eingesperrt sind als auch nach deren Entlassung, die in Wahrheit nur vorübergehend und auf Probe ist. Freiheit, Leben, Nahrung, Obdach und Beschäftigung hängen allesamt davon ab, ob sich ein Mensch unterwirft und durch die Psychopharmaka stigmatisieren und zu einem Behinderten machen lässt.
 
Mit diesen Psychopharmaka ist weniger Medizin gemeint, eher Medikation. Diese stellt ruhig, stumpft ab, macht träge oder hektisch, vermindert oder erzeugt Stress, stört die Konzentrationsfähigkeit und verzerrt die Wahrnehmung, verhindert vernünftiges Denken. Sie tut das, was Psychopharmaka eben tun: sie entstellen, aber sie heilen nicht, wie auch, wenn gar keine Krankheit vorliegt. Psychische und emotionale Belastungen und Beschwerden sind nun mal natürliche Bestandteile des menschlichen Lebens und keine Krankheitssymptome. (...)
 
Peter Breggin (1990) hat eine umfassende Darstellung von Forschungsarbeiten über Schädigungen publiziert, die durch Neuroleptika wie Haloperidol (im Handel u. a. als Haldol, Haloper, Sigaperidol), Chlorpromazin (im Handel u. a. als Chlorazin, Propaphenin), Thioridazin (im Handel u. a. als Melleril) oder Fluphenazin (im Handel u. a. als Dapotum, Lyogen, Lyorodin) verursacht werden – Psychopharmaka, die PatientInnen ›freiwillig‹ nehmen sollen, wenn sie ihre Sozialunterstützung nicht verlieren wollen. Breggin beschäftigte sich mit den Auswirkungen solcher Substanzen auf die höheren Hirnfunktionen, außerdem fasste er Untersuchungen des Hirngewebes sowie Tierstudien zusammen. Er fand heraus, dass neuroleptikabedingte Hirnschäden häufig durch die Wirkung der Psychopharmaka selbst kaschiert werden und daher erst während des Entzugs, wenn der Schaden bereits irreversibel ist, zum Vorschein kommen. Das kann zu lebenslanger Neuroleptika-Einnahme führen. Breggin beschreibt auch, wie psychiatrische Psychopharmaka das Gehirn gewissermaßen schrumpfen lassen und über die kurzfristige Ruhigstellung und Behinderung intellektueller Prozesse hinaus bleibende kognitive (die Denkfähigkeit betreffende) Defizite verursachen. Er nennt die seuchenartige Ausbreitung der neuroleptikabedingten tardiven Dyskinesien (oft irreversible Bewegungsstörungen) eine physisch bedingte »iatrogene (vom Arzt verursachte) Tragödie« und appelliert an die Ärzteschaft, die Verantwortung für die Schädigungen zu übernehmen, die Millionen von Menschen in der ganzen Welt erleiden. Neben Stoffwechsel- und Herz-Kreislauf-Erkrankungen ist bei neu entwickelten Clozapin (im Handel u. a. als Clopin, Elcrit, Lanolept, Leponex)-artigen (›atypischen‹) Neuroleptika wie Zyprexa (Wirkstoff Olanzapin) oder Sertolect (Wirkstoff Sertindol) insbesondere mit tardiven Psychosen zu rechnen: der Verschlechterung oder Chronifizierung von psychotischen Zuständen als Resultat behandlungsbedingter Rezeptorenveränderungen – ein Schaden, auf den Robert Whitaker (2002, S. 253 – 286) und Peter Lehmann (1996, S. 99 – 104; 2003) aufmerksam machen.
Im Gegensatz zum medizinischen Modell respektiert das humanistische und psychologische Modell die Menschenrechte, insbesondere im Hinblick auf Einweisung und Zwangsbehandlung. Aber dieses Modell ist in unserer Gesellschaft nicht gebräuchlich.
 
So gesehen wirkt das medizinische Modell sowohl niederträchtig als auch töricht. Es ist eine Laienreligion, aber auch eine massive Bedrohung unserer Rechte ebenso wie unserer Fähigkeit, mit Logik und Verstand solch komplizierte Dinge wie Medizin und Krankheit zu betrachten. Das medizinische Modell lehrt die ursächliche Vorbestimmtheit allen Geschehens: Freiheit und Verantwortung, gut und böse, Wahlmöglichkeit und Vernunft werden von ihm ausgelöscht. Das hat enorme politische Auswirkungen. Wir werden geführt und kontrolliert. Wir werden auf Linie gebracht, korrigiert und geleitet von Sozialbürokratien, der gewaltigen Kreatur der Staates, Anstalten, gemeindepsychiatrischen Einrichtungen oder privaten Kliniken.
 
Hinter den Vorstellungen von psychischer Gesundheit und psychischer Krankheit steckt eine gigantische Industrie mit Hunderttausenden von Arbeitsplätzen, mit Zuschüssen und Ausgaben, Doktoren, Krankenschwestern und -pflegern, ein totales Überwachungssystem mit geschlossenen Abteilungen und entsprechenden Hilfsmitteln, Sicherheitspersonal und technischen Vorrichtungen, Herstellerfirmen von Gerätschaften für Fixierung, Überwachung und Elektroschocks; schließlich ist da noch die Pharmaindustrie selbst, zusammen mit der Rüstungsindustrie weltweit der größte und ertragreichste Industriezweig. Im Umfeld gibt es Tausende von Zulieferfirmen, Zeitschriften und Bildungseinrichtungen, die Anerkennungs- und Beglaubigungsbürokratie, Aktenverwalter und andere Büroangestellte, Tagungsstätten und Ausbildungszentren, Bauunternehmer und Wartungspersonal, die ganzen Ausstattungsfirmen und Geldgeber, Versicherer und schließlich Rechtsberater und Buchhalter.
 
Ständig ertönt der Ruf nach mehr Geld, nach mehr Forschung zu psychiatrischen Krankheiten, nach mehr Einrichtungen zur Unterbringung und Absonderung, nach größerem Spielraum bei Einweisung und geschlossener Unterbringung. Gleichzeitig wird mit erbärmlicher Heuchelei die salbungsvolle Bitte vorgetragen, doch mehr Toleranz und Verständnis aufzubringen, wobei noch weitergehende Krankheitsvorstellungen gezimmert werden, dass wir alle mehr oder weniger Keime psychischer Krankheit in uns tragen und einer immer umfassenderen und tiefgreifenderen Behandlung bedürfen.
In all dem stecken so viel Geld und Macht, Arbeitsplätze und Karrieren, dass die Kirche mit ihren sozialen Normen als mächtigste Einrichtung zur Kontrolle der Gesellschaft in den Schatten gestellt wurde. Darüber hinaus sind die psychiatrischen Kriterien gesetzlich abgesichert und juristisch durchsetzbar; das heißt im Unterbringungsverfahren geht es um Freiheit und Gefangenschaft. Dies gilt auch für die Psychiatriegesetze und die Vormundschaft, heute ›Betreuung‹, die einem Individuum die Fähigkeit abspricht, selbstständig persönliche Entscheidungen zu treffen. Alles, was sein weiteres Schicksal betrifft, wird von Dritten entschieden. Eine Person, die der psychischen Krankheit überführt wurde, existiert rechtlich nicht mehr, ihr selbstständiger Status und ihre persönliche Identität sind ausgelöscht: Das betrifft alle Bereiche der Lebensgestaltung und des Selbst.
 
Der Glaube an eine eingebildete, trügerische Krankheit ist fest verankert. Die sozialen Kontrollmöglichkeiten sind – zufällig oder absichtlich – derart überwältigend, dass ihr Missbrauch nicht etwa ungewollt ist, sondern bewusster Bestandteil des Konzepts. Ergebnis und tatsächlicher Zweck ist die Schaffung zwanghafter sozialer Konformität. Sogar die Inquisition verblasst neben solchen Erfindungen. Es ist nicht leicht, an den Terror heranzureichen, der von elektroschockbedingten Krampfanfällen, von Vierpunktfixierungen und massiven Spritzen verstandestötender Psychopharmaka ausgeht. Dieses System ermöglicht die Anwendung totalen Zwangs und schafft völlige Hilflosigkeit.
 
Natürlich ummanteln soziale Institutionen im Allgemeinen solche Aktivitäten. Normalerweise sind sie in das Alltagsleben integriert, werden als gegeben hingenommen, als unvermeidbar oder nützlich akzeptiert, als allgemeiner Bestandteil unserer Zivilisation oder gar als Erlösung. Bedenken Sie die Macht und die Struktur der staatlichen Psychiatrie, einer Einrichtung, deren Geltungsbereich, Größe und Komplexität, Ausweitung und Effizienz von internationalem Zuschnitt ist. Bedenken Sie den Einfluss der Psychiatrie in Schulen und Universitäten, in unserem gesamten Beschäftigungssystem, ihren Einfluss auf alle Fragen unserer Gesundheitsversorgung, auf das Wohlfahrtssystem, auf öffentliche Hilfe, staatliche Subventionen, auf das private Miteinander. Vor allem aber bedenken Sie die kulturelle Akzeptanz und die gesellschaftliche Anerkennung der Psychiatrie, die hehren Ziele der ›helfenden Berufe‹, laut sozialem Konsens höchst ehrenwerte und von größter Nächstenliebe geprägte Ziele. Ist deren Mission nicht göttlich, nicht heilig, dann wenigstens vornehm und edel, eine Offenbarung wissenschaftlicher Wahrhaftigkeit, unsere moderne weltliche Religion. Wenn es sich auch um eine Pseudowissenschaft handelt: der Wunsch, daran zu glauben, hat die Suche nach Fakten und Beweisen ersetzt. Behauptungen werden als Tatsachen akzeptiert.
 
Wie kann eine Einbildung die Macht des Faktischen erlangen? Dadurch, dass die Beherrschten an sie glauben und sie billigen. Wie jeder Aberglaube hat auch dieses System aus Gedankenkonstrukten enorme Macht. Aber da es auf Panzerglas, Schlüsseln und Polizeigewalt beruht, wäre diese Macht auch existent, wenn wir nicht an sie glaubten. Trotzdem bekommt sie durch unseren Glauben noch größeren Einfluss. Gottgleiche Macht hat sie gehabt für uns, die wir physisch und psychisch ihre Gefangenen waren.
 
Wir sind Überlebende eines der übelsten Unterdrückungsapparate, die je entwickelt wurden, seine Opfer ebenso wie seine KritikerInnen. Wir müssen die Wahrheit erzählen und klarstellen, dass psychische Krankheit ein Phantom ist, sowohl intellektuell als auch wissenschaftlich, aber auch ein System zur sozialen Kontrolle von noch nie da gewesener Gründlichkeit und Allgegenwart. Es ist unsere Aufgabe, dieses Phantom als solches bloßzustellen und uns alle zu befreien – denn wir alle werden vom Phantom psychische Krankheit eingeschüchtert, eingeschränkt und unterdrückt. Wir setzen Vernunft gegen Irrtum und Aberglauben, Phantasie gegen Anpassung und Unterdrückung. (...)"
 
"(...)  Der Zusammenhang von Psychiatrie und Gewalt gegen Frauen
  1. Wir werden beschimpft, misshandelt, vergewaltigt. Man redet uns ein, wir hätten darum gebeten. Endlos analysiert man unsere Kindheit, um Gründe für unseren 'Masochismus' zu finden. Indem man den Opfern die Schuld gibt, soll die gesellschaftliche Akzeptanz von Gewalt gegen Frauen auf ewig festgeschrieben werden.
  2. Wenn wir wütend werden und uns darüber aufregen, dass wir vergewaltigt, geschlagen und herumgestoßen werden, so 'behandelt' man uns und verfrachtet uns in psychiatrische Einrichtungen. Dort finden die sexuellen Schikanen dann ihre Fortsetzung.
  3. Wenn wir vom System Hilfe wollen, machen wir unsere spezifischen Erfahrungen: Männer definieren und beurteilen unsere Erlebnisse in Kategorien von Qualität und Quantität. Sie unterscheiden Vergewaltigung durch einen Fremden auf der Straße von Vergewaltigung durch einen Bekannten oder Liebhaber. Sie wägen Vergewaltigung gegen Inzest und Misshandlung ab. Frauen gelten entsprechend ihrem gesellschaftlichen Status als unterschiedlich verwundbar: Sozialhilfeempfängerinnen oder Frauen, die als Prostituierte arbeiten, werden weniger ernst genommen als z.B. weiße, verheiratete Mittelstandsfrauen mit zwei Kindern. So wird die Gesamtheit der Frauen gespalten, die Tatsache, dass unsere Kultur und unser aller Leben von Gewalt durchdrungen ist, bleibt verborgen. Die Ähnlichkeiten unserer Erfahrungen mit Gewalt sind viel wichtiger als die speziellen Einzelheiten oder Umstände der Misshandlungen.
  4. Man zweifelt unsere Glaubwürdigkeit an, weil wir Frauen sind; unsere Worte gelten weniger, egal was wir sagen. Wenn wir unser Leiden zum Ausdruck bringen, z.B. durch Schreien oder Wutausbrüche, stempelt man uns als hysterisch ab. Bleiben wir bei Gewaltanwendung ruhig, gelten wir als unglaubwürdig, man nimmt uns nicht ernst. In zugespitzter Form besteht dieses Dilemma für ehemalige Anstaltsinsassinnen oder andere Frauen, die mit dem Etikett der 'psychischen Krankheit' belastet sind. Unser Status als 'Verrückte' wird gegen uns eingesetzt: Wir lügen, wir halluzinieren, oder es kommt gar nicht darauf an.
  5. Unsere Schwestern, die feministischen Therapeutinnen, lassen uns ebenfalls im Stich. Sie stempeln uns ab, weisen uns zurück oder erkennen – im Gegensatz zu uns – einfach nicht die Zusammenhänge. (...)
Hindernisse sind zum einen die männlich dominierten Vorurteile der Gesellschaft. Wenn wir uns an die Menschen wenden, die wir lieben, müssen wir erkennen, dass es ihnen immer noch unmöglich ist, uns als Opfer von Vergewaltigung oder Misshandlung anzuerkennen. Man verurteilt uns, schimpft mit uns oder ignoriert uns höflich. Außerdem gilt es als unschicklich, das Bedürfnis oder den Wunsch nach Unterstützung offen zuzugeben. (...)
 
Wenn wir nicht verschweigen, dass wir vergewaltigt oder misshandelt wurden, dass uns dies verletzt hat und dass wir Hilfe brauchen, ist es sehr wahrscheinlich, dass wir mit dem psychiatrischen System in Kontakt kommen. Manche von uns gehen zu Beratungsstellen oder in die Therapie, weil uns gesagt wurde, dass das die richtigen Anlaufstellen sind, wenn wir emotional aufgewühlt und verzweifelt sind. Einige von uns wissen, dass wir mit anderen Frauen reden müssen und dass der einzige Ort, wo wir uns finden können, in einer Unterstützungsgruppe eines Krisenzentrums oder in einer klinischen Einrichtung innerhalb des psychiatrischen Systems ist. Andere von uns werden in die Psychiatrie eingewiesen, weil sie protestieren oder ihren Schmerz zeigen. Eine misshandelte Frau, die beim Nachbarn an die Tür klopft, um Hilfe schreit oder die Polizei ruft, läuft ernsthaft Gefahr, in der Psychiatrie untergebracht zu werden. Besonders gefährdet sind Frauen, denen man in der Gesellschaft wenig Wert beimisst, wie z.B. farbige Frauen oder Frauen mit geringem Einkommen. Immer öfter stellt sich heraus, dass Basisinitiativen oder alternative feministische Hilfsorganisationen infiltriert werden, mit dem psychiatrischen Apparat kooperieren oder bereits vollständig von ihm geschluckt sind.
 
Wie das psychiatrische System gegen unsere Interessen handelt
  1. Zunächst einmal liegt das Problem darin, dass man die Psychiatrie überhaupt hinzuzieht. Gewalt gegen Frauen ist keine persönliche oder individuelle Angelegenheit unpolitischer Natur, sondern eine politische Realität. Die Vorstellung von 'psychischer Gesundheit' impliziert auf der anderen Seite eine entsprechende Krankheit. Aber Frauen, die Opfer von Gewalttaten wurden, sind nicht krank. Die Aufmerksamkeit auf eine einzelne Person zu richten, ist aus zwei Gründen fatal. Zum einen führt die Konzentration auf die spezielle Frau dazu, dem Opfer die Schuld zu geben, entweder ganz offen oder durch eine Therapie, die nach versteckter Motivation sucht. Zum anderen führt diese Blickrichtung zu einer Einschätzung des Vergewaltigers als einer Person, die unter einer individuellen Krankheit leidet. Er wird somit der persönlichen Verantwortung für seine Taten enthoben, und die gesellschaftlichen und kulturellen Wertmaßstäbe, die zu Gewalt gegen Frauen ermutigen, werden verschleiert. Wir wissen, dass Vergewaltiger keine abartigen Ausnahmen sind. Die Erfahrungen von Frauen bestätigen diese Erkenntnis. Allen Frauen ist bewusst, dass Männer die Verfügbarkeit unserer Körper und den Zugriff auf sie als selbstverständlich voraussetzen. Diese Tatsache zeigt sich in jedem Bereich unseres Lebens; in der Werbung, in Belästigungen auf der Straße, in den Medien und in unseren privaten Beziehungen. Selbst nach Einschätzung psychiatrisch Tätiger sind Vergewaltiger normale Männer.
  2. Immer häufiger werden unsere Gewalterfahrungen wie Krankheitssyndrome beschrieben. In Literaturverweisen tauchen z.B. Begriffe auf wie das »Vergewaltigungstrauma-Syndrom«, das »Inzestopfer-Syndrom« oder das »Misshandlungs-Syndrom«. Diese Art von Anerkennung ihrer bis vor kurzem noch undiskutierten Probleme wurde von Frauen unkritisch begrüßt. Als feministische Ex-Insassinnen betrachten wir die Einmischung von 'Experten' des psychosozialen Systems jedoch als schädlich. Für die Bestätigung unserer eigenen Erfahrungen brauchen wir keine Psychologinnen und Psychologen. Hier sind einige der negativen Auswirkungen ihres Eingreifens:
    1. Entsprechend den Umständen des Überfalls entsteht eine Hierarchie. Eine Frau, die von mehreren Männern oder von einem Fremden auf der Straße vergewaltigt wurde, musste eine 'bessere' (echtere, ernsthaftere, gültigere) Vergewaltigung über sich ergehen lassen als eine Frau, die von einem Bekannten vergewaltigt wurde. Eine Frau jedoch, die von ihrem Ehemann oder von ihrem Intimpartner vergewaltigt wurde, gilt als krank, weil sie überhaupt in so einer Beziehung geblieben ist. Frauen, die von Männern 'niederer' Herkunft vergewaltigt wurden, werden als 'mehr' (echter, ernsthafter, gültiger) vergewaltigt anerkannt, weshalb sie als glaubhafter gelten.
    2. Wenn wir unsere Erfahrungen verschiedenen Syndromen (Gruppen von Krankheitssymptomen) zuordnen, wirken diese künstlichen Unterscheidungen als Schranken und verhindern, dass wir unsere gemeinsame Erfahrung erkennen, uns gegenseitig unterstützen und zusammen für Veränderungen eintreten können.
    3. Diese Klassifikationen sind ein Diebstahl unserer Rechte und unserer Verantwortung, unsere Unterdrückung selbst zu beschreiben.
    4. Die Definition von Symptomen und Reaktionen führt zu einer professionellen Gegenreaktion, die uns weiterhin kontrollieren soll.
Die Einbeziehung des psychiatrischen Systems, wo es um Gewalt gegen Frauen geht, soll uns ruhigstellen, im wörtlichen und im übertragenen Sinn. Im schlimmsten Fall werden einige von uns in Anstalten untergebracht und werden Opfer der krassesten Form psychiatrischer Unterdrückung: Zwangsbehandlung mit Psychopharmaka, Elektroschocks, Isolation und Fixierung. Selbst im besten Fall, d.h. in relativ unterstützenden, mitfühlenden und zwangsfreien Situationen, redet man uns unsere Wut aus oder hilft, sie in 'angemessenere' Kanäle zu lenken.
In heimtückischer Weise übernimmt das psychosoziale System den Kampf gegen Gewalt gegen Frauen. Angesichts versiegender Finanzquellen bemühen sich psychiatrische Einrichtungen um neue 'Patientinnen' und 'Patienten' und um die Förderung populärer Projekte. In den USA wandelt man Frauenzentren um; sie werden professionalisiert und nehmen Gelder aus den Fonds des psychosozialen Systems an. Ein weiteres Beispiel ist der Kampf um Entschädigung für Opfer von Gewaltverbrechen. Wo überhaupt, wie z.B. in Kanada, Entschädigung gezahlt wird, verlangt man ein Gutachten über unsere Schmerzen und Leiden sowie eine Bescheinigung über die Kosten der Behandlung. Wir lehnen die Vorstellung ab, dass wir ein psychiatrisches Gutachten brauchen, um zu beweisen, dass uns ein Überfall aus der Fassung bringt.
 
In patriarchischen Kulturen sind Frauen täglich mit Gewaltandrohungen und Unterdrückung konfrontiert. Der Feminismus ist eine starke Basis, auf der sie zusammenkommen und an gemeinsamen Strategien arbeiten können. Frauen, die mit riesigen Erwartungen und dem Bedürfnis nach Unterstützung zur Bewegung stoßen, wenden sich nach Enttäuschungen oft an feministische Therapeutinnen, um diese Leere zu füllen. Diese (und andere) Funktionen feministischer Therapie sind für uns Feministinnen ausgesprochen problematisch, denn als ehemalige Insassinnen Psychiatrischer Anstalten sehen wir Therapie als das an, was sie ist: ein Mechanismus sozialer Kontrolle.
 
Gefühle von Frauen als Krankheiten zu behandeln, trägt nicht zur Wiederherstellung von 'Gesundheit' bei. Im Gegenteil, diese Pervertierung von Fürsorge widerspricht zentralen feministischen Anliegen, dass alles Private politisch ist. Die Geschichte der Professionalisierung des Gesundheitswesens sollte uns als Feministinnen einige Aufschlüsse über dessen hierarchische, frauenfeindliche Strukturen geben. Männer bekamen Angst vor Frauen, die in der Heilkunst bewandert waren, diffamierten sie als Hexen, beschimpften sie als Lesben und betrieben ihre Vernichtung.
 
Durch das Individualisieren, Personalisieren oder Therapieren der ganz realen soziokulturellen, psychischen und körperlichen Unterdrückung im Leben der Frauen sind diese sich selbst fremd, voneinander isoliert und unfähig zu gemeinsamen Aktionen. So ist es uns unmöglich, über unsere Gefühle zu reden oder mit ihnen 'umzugehen'. Denn sobald die Gefühle einer Frau zu intensiv werden, werden sie aufgeteilt, zerlegt und in dem professionellen Reich der Therapie isoliert. (...)
 
Solange die feministische Therapie existiert mit ihrer Unterscheidung zwischen Therapeutin und Patientin, zwischen der Frau, der es gut genug geht, um von feministischer Therapie Hilfe zu bekommen, und derjenigen, der es 'zu schlecht' geht und die die Unterbringung in eine Anstalt braucht, so lange wird auch der psychiatrische Apparat als Maßnahme der sozialen Kontrolle aller Frauen weiterbestehen. Wie alle Therapeutinnen und Therapeuten verfügen auch feministische Therapeutinnen über das berufliche Privileg, Frauen gegen ihren Willen »in ihrem wohlverstandenen Interesse« einweisen zu lassen. Das Machtgefälle wird nicht überwunden. Noch trauriger stimmt die Tatsache, dass immer mehr Frauen Therapeutinnen werden und damit die Vorstellung unterstützen, dass extreme Gefühle Krankheiten sind, die die hierarchische und professionelle Intervention nötig machen.
 
Patientinnen, wie sie feministische Therapeutinnen sich wünschen und anziehen, unterscheiden sich nicht von dem Typ weiblicher Patientinnen, an denen (laut Schofield/Balian 1960) männliche Therapeuten die Therapie am wirksamsten und erfolgreichsten erleben. Diese Patientinnen sind 20 bis 40 Jahre alt und ohne höhere Ausbildung. Ihre Erscheinung ist als das »YAVIS-Syndrom« beschrieben worden: young, attractive, verbal, intelligent and successful (jung, attraktiv, sprachgewandt, intelligent und erfolgreich), mit anderen Worten: 'normal'. Wer damit fortfährt, normale Probleme zu behandeln, als wären sie krankhaft, untergräbt nicht nur das Unterstützungsbedürfnis der Frauen durch ein ausbeuterisches Verhältnis, sondern macht sie von der Unterstützung abhängig und pervertiert die Hilfe. Das trägt nicht bei zur Überwindung unserer Selbsteinschätzung als 'Kranke', die eine 'sachorientierte' und 'professionelle' Behandlung brauchen. Im Gegenteil, die Selbstzweifel über den eigenen psychischen Zustand werden noch verstärkt. Wenn wir behandelt werden, als wären wir gestört, dann werden wir uns auch krank fühlen und von anderen erwarten, uns ebenso zu sehen. (...)
 
Wer unsere Erfahrungen als Vergewaltigungs- oder Inzest-Syndrom bezeichnet oder das passende psychiatrische Etikett für misshandelte Frauen findet, ändert die Erfahrungen nicht. Wie in allen anderen Therapien auch, verlassen sich feministische Therapeutinnen statt auf die Betroffenen selbst auf klinische Beurteilungen. Sie fragen uns nicht, sie beschwichtigen. Dafür, dass sie unsere Wut und unseren Schmerz als Krankheit behandeln, bekommen sie von den Krankenversicherungen Geld; wir jedoch fühlen uns noch 'verrückter'. Auch zu anderen kritischen Punkten bezogen feministische Therapeutinnen keine Stellung: zur zivilrechtlichen Unterbringung, zur Zwangsunterbringung, zu Elektroschocks oder Zwangsbehandlung mit psychiatrischen Psychopharmaka. Wie sollen wir ihnen da trauen? Und schließlich ist feministische Therapie ein Widerspruch in sich. Feminismus existiert aus der Bewusstwerdung. Wesentlich für Frauen ist zusammenkommen, das gemeinsame Anliegen zu definieren und sich gegenseitig zu unterstützen. Wir sind uns der schädlichen Konsequenzen bewusst, wenn 'Profis' unsere Anliegen definieren und behandeln! Feministische Therapie ist Teil des psychiatrischen Systems, also eine Methode sozialer Kontrolle und ein Spiegel der Gesellschaft.
 
Platz für die Wut!
Unsere Wut ist real. Sie ist begründet und heftig. Sie ist kein Symptom, das mit Psychopharmaka oder Therapie wegbehandelt werden muss. Sie ist statt dessen die Quelle unserer Macht, Treibstoff für unsere Entrüstung und unsere Aktivität. Wir werden es nicht zulassen, dass irgend jemand – ob Psychiater oder feministische Therapeutin – uns einredet, wir seien krank, weil wir wütend sind, weil wir uns nicht beruhigen und keiner 'Realität' anpassen wollen, die uns als minderwertig definiert. Wir lehnen die Vorstellung ab, dass es einen unangemessenen Grad an Wut gibt oder dass sie unangemessen lange währt. Wir erfreuen uns unserer Identität als verrückte Frauen, als stolze und starke Furien.
 
Zusammenfassung unserer Analyse
Die Macht, die hinter den systematischen Übergriffen auf Menschen steht und die sie als 'geisteskrank' bezeichnet, ist die gleiche, die zu Hass auf Frauen und fortgesetzter Gewalt gegen sie führt. Diese Macht ist ein Teil unserer Wirtschaftsordnung innerhalb des Systems männlicher Herrschaft. Für uns Feministinnen und ehemalige Psychiatrie-Insassinnen ist dies der Schnittpunkt von Gewalt gegen Frauen und psychiatrischer Bedrohung.
Tatsächlich ist das psychiatrische System ein Mikrokosmos des gesellschaftlichen Systems. (...)
 
So, wie das psychiatrische Netz überall auf der Welt der sozialen und wirtschaftlichen Kontrolle dient, so dient die Gewalt gegen Frauen deren sozialer und ökonomischer Kontrolle. (...)
 
Wir sprechen hier, weil Schweigen Komplizenschaft bedeutet, und nie werden wir Übergriffe auf irgendeine Frau tolerieren. Jede von uns ist kostbar, einzigartig und wertvoll. (...)"
 
"(...) Eine Studie in der Fachzeitschrift “Law and Human Behavior” zeigt, dass wütende Frauen weniger Einfluss auf andere haben, während bei Männern das genaue Gegenteil der Fall ist. (...)
 
Jeanne Vaccaro, Universitätsprofessorin am Kinsey Institute, im Gespräch mit dem Magazin Broadly: “Hysterie wurde immer schon dazu verwendet, um Frauen zu pathologisieren – jede Aufregung wird als irrational und weit weg von fundiert angesehen.”
 
Die Wahrnehmung von Frauen als irrationale Wesen, sei tief in unserem kulturellen Gedächtnis verankert. Sexistische Vorstellungen manifestieren sich im Unbewussten, Menschen wissen oft nicht einmal, welche Vorurteile sie mit sich herumtragen. Fazit der Studie: Frauen, die verärgert sind und ihrem Ärger öffentlich Luft machen, werden nicht ernst genommen, da sie als ,hysterisch’ und somit irrational klassifiziert werden. Während hingegen Männern, die das Gleiche tun, sogar Kompetenzen zugesprochen werden."
 
"(...) Mittlerweile weiß ich auch, was mich damals wie heute so anstachelt: Ungerechtigkeit. Unverhältnismäßige Reaktionen, unfaire Zustände, ungleiche Behandlung. (...)
 
Was bitte ist eine „mad woman“?!
 
In ihrem Buch „Rage becomes her“ („Die Wut steht ihr gut“) beschäftigt sich die amerikanische Journalistin und Aktivistin Soraya Chemaly mit dem Phänomen der wütenden Frau. In der westlichen Welt, erklärt sie, seien „mad women“ eben mehr als „mad“ im Sinne von sauer, sondern synonym mit verrückt, durchgeknallt. So würden wütende Frauen sofort diskreditiert. Wir seien so wenig an den Anblick und an die Kraft einer wütenden Frau gewöhnt, dass weibliche Selbstbehauptung, Aggression und Wut oft in einen Topf geworfen werden, schreibt die Autorin. Aber: Wut sei eine Emotion. Selbstbehauptung und Aggression seien Verhaltensweisen. Man könne sich durchsetzen, ohne wütend zu sein. Und wütend sein, ohne es zu zeigen. Ich hielt mich lange für eine aggressive Person. Auch weil es mir oft so gespiegelt wurde. Heute weiß ich: Ich bin nicht aggressiv. sondern einfach nur verdammt wütend.
 
Wut ist eine Emotion, die nahegeht, aber von einer Frau will niemand unangenehm berührt werden. Frauen sollen nähren, geben, pflegen – und schmücken. „Wütende Frauen sind hässliche Frauen“, schreibt Chemaly. „Eine Todsünde in einer Welt, in der sich die Sicherheit, der Ruhm und der Wert einer Frau für die Männer in ihrem Umfeld an ihrem sexuellen Nutzen und ihrer Fruchtbarkeit bemessen.“ 
 
Ich weiß, dass meine Wut oft so kraftvoll ist, dass sie anderen Menschen unangenehm ist. Ich fluche wie ein Kesselflicker, ohne Hemmungen. Ich habe kein Problem mit meiner Wut. Mein Problem ist, dass andere ein Problem mit ihr haben. Frauen gelten schon als „angry women“, als keifende Weiber, wenn sie Probleme nur ansprechen. Offen Kritik zu üben macht Frauen zu ­Meckerziegen und Männer zu guten Managern. (...)
 
Überhaupt werden wütende Frauen beruflich fast immer als weniger kompetent eingestuft. Wehe, Hillary Clinton hätte während des Präsidentschafts-Wahlkampfs 2016 nur einmal die Contenance verloren als Reaktion auf die distanzlosen, unprofessionellen Bosheiten ihres Gegners – niemand hätte sie mehr ernst genommen. Während das rote, wutverzerrte Gesicht Donald Trumps, seine brüllende Rhetorik, seine wütenden Beleidigungen ihn nicht am Einzug ins Weiße Haus hinderten. (...)
 
Sofort höre ich dann meine Eltern, Lehrer, Vorgesetzten: „Reg dich nicht auf. Lass das nicht so an dich ran.“ Aber warum eigentlich nicht? Es ist respektlos, meinen Zorn, meine Empörung so zu delegitimieren. Darf ich mich etwa nicht aufregen, nur weil ich eine Frau bin? Soraya Chemaly beschreibt wissenschaftliche Versuche, die deutlich machen, wie die Sozialisation von Frauen verläuft: Bockige kleine Mädchen sind noch süß, zornige Teenager schon bedenklich und wütende Frauen einfach peinlich (übrigens auch anderen Frauen). So bringen wir Frauen bei, sich so zu verhalten, dass sie gemocht werden – und nicht etwa respektiert. (...)
 
Ärger, den man nicht auslebt, richtet sich irgendwann gegen einen selbst, sagt der buddhistische Mönch Haemin Sumin. Und das ist nun wirklich eine beschissene Alternative. (...)
 
Natürlich weiß ich auch, dass man seinem Ärger nicht immer sofort nachgeben sollte. Klar lohnt es sich im Alltag und vor allem im Job, seinen Zorn aus diplomatischen und professionellen Gründen auch mal im Zaum zu halten. Ich würde nie behaupten, dass es mir oder anderen guttut, rot zu sehen – also richtig auszuflippen und laut zu werden. Das ist blinder Zorn, hitzköpfige Aggression, die mehr blockiert als hilft. Die konstruktive Wut, die ich so liebe, speist sich aus Ungerechtigkeit, Enttäuschung und Schmerz; sie treibt uns an und gibt uns die Kraft, die Dinge zum Guten zu ändern – nicht nur für uns persönlich, sondern für alle. (...)
 
Auch wenn die Geschichtsbücher es gern verschweigen, waren wütende Frauen oft die treibende Kraft hinter Revolutionen. Es waren hauptsächlich Frauen, die nach Versailles marschierten, um Brot für das Volk zu verlangen und damit die Französische Revolution initiierten. Es waren die Suffragetten, die das amerikanische Wahlrecht revolutionierten. Und auch Rosa Parks, die 1955 in den USA mit ihrer Weigerung, einem Weißen ihren Sitzplatz im Bus zu überlassen, die schwarze Bürgerrechtsbewegung auslöste, war keine stille, demütige Frau, sondern eine laute, wütende, engagierte Aktivistin. Ihr gewaltfreier Protest war wohlüberlegt, aber getrieben von blankem Zorn.

Vielleicht, stellt Rebecca Traister in „Good and Mad“ zur Diskussion, sei der Grund für die strukturelle und kontinuierliche Untergrabung und Delegitimierung der wütenden Frau, dass alle wissen, dass kein Stein auf dem anderen bliebe, wenn weibliche Wut ihre wahre Kraft entfalten würde. „Wenn wir uns nach Wandel sehnen, dann können wir es uns nicht länger leisten, die Wut der Frauen zu belächeln, zu fetischisieren, zu marginalisieren und uns davor zurückzuziehen“, schreibt sie. Gerade für Autorinnen, Aktivistinnen und Politikerinnen ist Wut eigentlich genau das richtige Werkzeug. Sie ist groß, sie ist echt, sie hat Energie und Intensität. Und: Sie transportiert Dring­lichkeit. (...)"
 
"(...) Wütende Frauen sind stark. Starke Frauen sind schwierig. Und die will niemand haben!  (...)
 
Die Psychologin Ursula Hess sagt: „Wut hat viele positive Elemente. Menschen, die ärgerlich reagieren, werden häufig auch als fähiger, kompetenter und kräftiger wahrgenommen.“ (...)
 
Statistisch halten sich Frauen häufig zurück, damit Konflikte gar nicht erst stattfinden. Sie gehen gar nicht so weit, den Ärger zuzulassen.
 
„Eine wütende Frau verliert an Status, ganz gleich, in welcher Position sie ist“, stellte eine Forschungsgruppe um die US-Psychologin Victoria L. Brescoll von der Universität Yale fest. Sie zeigten den Teilnehmenden ihrer Studie Videos wütender Menschen. Ihr Resümee lautete: Die Wut der Männer wurde positiv gewertet, die der Frauen negativ. Der offene Umgang mit Wut ist bei Männern eine akzeptierte Verhaltensweise, Frauen hingegen müssen oft Ablehnung fürchten.
Ein Großteil der Frauen rastet lieber in einem geschlossenen Raum aus, weil wir ganz früh verinnerlichen, wie wichtig es für die öffentliche Wahrnehmung ist, dass wir unsere Anliegen freundlich vortragen. Sonst nimmt man uns nicht ernst. (...)
 
Eine Frau, die auf Ungerechtigkeiten aufmerksam macht, für sich einsteht oder Raum einnimmt, gilt als schwierig. (...)
 
Frauen berichten über mehr Wut nach Verrat, Herablassung, Zurückweisung, unbedachter Kritik oder Nachlässigkeit, während Männer über mehr Ärger berichten, wenn ihre Partnerin launisch oder selbstbezogen ist. Männer sind also über alles sauer, was mit Frauen zu tun hat, und Frauen über alles andere. Dass so viele Frauen ihre eigene Wut nicht mögen und lieber zu Tränen statt zu Aggression greifen, ist keine natürliche Entwicklung, sondern wurde über Jahrhunderte kultiviert. Dass die Wut von Frauen quasi verboten wird, basiert laut der Psychologin Teresa Bernardez auf drei Faktoren. Erstens auf der gesellschaftlichen Stellung der Frau als Untergebenen, zweitens auf der gesellschaftlichen Notwendigkeit, Frauen in Dienstleistungsaufgaben zu halten, und drittens auf der Rolle des „weiblichen Ideals“, das in seiner Konstruktion sowohl die Unterordnung als auch das Dienen und Kümmern enthält. (...)
 
Wut ist nicht anstrengend, sondern mächtig. Wütende Frauen sind auch nicht anstrengend, sondern ermächtigend. (...)
 
Wir brauchen eine Bedeutungsumkehr. Aktuell wird die Wut von Frauen fehlinterpretiert. Gesellschaftlich müssen wir lernen, sie neu zu definieren. Geschichten von Wut-Vorbildern sollten bereits im Vorschulalter ein integraler Bestandteil der Wissensvermittlung sein, aber auch in Film und Fernsehen.
 
Wut ist nicht böse. Sie ist eine essenzielle Emotion. Böse Menschen sind wütend, und gute Menschen sind es auch. Wut ist auch kein Synonym für Zerstörung. Sie hat unterschiedliche Formen. Individuell müssen wir auf unseren eigenen Ärger hören, ihn annehmen und vor allem herausfinden, was er uns zu sagen versucht. Wut auszudrücken, ist Selbstliebe. Sie als Frau zu artikulieren, ist mutig. Dabei sollte es eigentlich normal sein.
 
Der nächste Schritt ist die Neutralisierung. Dass Wut zu dem wird, was sie eigentlich ist: eine normale Reaktion auf eine Ungerechtigkeit. Die Neutralisierung sollte sich nicht nur auf die Emotion beziehen, sondern auch auf die Personen, die sie ausdrücken. Damit alle Menschen den Raum erhalten, Wut auszudrücken. Damit wir als Gesellschaft lernen, einander zuzuhören. Damit wir schlussendlich zu einer gerechten Gesellschaft werden."
 
"(...) Frauen, die ­wütend sind, »reagieren über«. Sie werden weniger ernst genommen. Sie werden als zu gefühlsstark gesehen, während der Grund ihrer Wut hinter die wahrgenommene Emotion tritt und vielleicht unsichtbar wird – als wäre eine Frau in diesem Augenblick allein ihre Wut und sonst nichts. Die Autorin Lilly Dancyger schreibt treffend: »Die Wut ­einer Frau ist wie Wahnsinn. Sie fühlte sich in mir wie Wahnsinn an, sie sah für andere wie Wahnsinn aus. Vielleicht würden wir nicht verrückt, wenn sie uns wütend sein ließen.«
 
Wenn sich eine Frau jedoch traurig zeigt, wirkt sie verletzbar, nicht gefährlich. Traurig zu sein ist für Frauen die größere Chance, gesehen, gehört und getröstet zu werden. So abgedroschen das Klischee des Beschützerinstinktes ist, so wahr ist dennoch, dass die Männer, mit denen ich zusammen war, immer eher auf meine Traurigkeit als auf meine Wut reagierten und dass der Satz »Was passiert ist, macht mich traurig« sie nachdenklich machte, sie Interesse zeigen ließ, ein »Ich bin so wütend« aber dazu führte, dass sie den Raum verließen und darauf warteten, dass ich mich be­ruhigte. Wenn Wut verwandelt wird in Niedergeschlagenheit, dann geht verloren, was sie zum Ausdruck bringen wollte. Sie ist ein kraftvolles Gefühl, ein Ruf nach Veränderung. (...)
 
Sie erzählte in einem Interview vor wenigen Monaten, dass es in diesem Lied, das sie 1995 veröffentlichte, tatsächlich nicht nur um Liebeskummer, sondern um sanktionierte Emotionen allgemein ging und sie beim Singen dachte: »Gott sei Dank sind diese Gefühle erlaubt. (…)
Diese Gefühle müssen gefühlt werden, sonst bleiben sie in deinem Körper, und du wirst krank.« (...)
 
Denn Wut ist eine angemessene Reaktion auf eine existierende Ungerechtigkeit. Wenn also den Menschen ihre Wut abgesprochen wird, die sich gegen ihre Diskriminierung engagieren, richtet sich die Kritik gegen das Anliegen selbst. Das »Tone Policing« impliziere, »dass Emotionalität und Rationalität nicht koexistieren können und nur ruhige Gespräche konstruktiv und lehrreich sein können. Es verlangt, dass Menschen sich von Angst, Trauer oder Wut loslösen«, während sie »die realen Konsequenzen von Sexismus, Rassismus und anderen Unterdrückungssystemen« sind, so erklärt die Journalistin Melina Borcak, wie Themen entwertet werden.
 
Gefühle zu erkennen und als inhaltlichen Teil eines ­Gespräches auch anzuerkennen ist jedoch für den gegenseitigen Respekt wichtig. Denn ruhig zu argumentieren können sich diejenigen viel häufiger leisten, die in der stärkeren Position sind und vielleicht auch die Macht haben, den Schmerz der anderen Person zu lindern. Daher sollten insbesondere die Gefühle von Menschen mit weniger Einfluss einen Raum bekommen. Denn Wut, sagte die schwarze ­Aktivistin Audre Lorde in ihrer berühmten Rede The Uses of Anger – Women responding to Racism, »Wut ist geladen mit Informationen«. Für die Rezeption von Wut bedeutet es also einen großen Unterschied, ob eine Person etwas zu sagen hat oder ob sie Wut als Machtgeste nutzt, um ihr Gegenüber verstummen zu lassen. Umso nachdenklicher sollte uns ­machen, wessen Wut überhört wird, ins Lächerliche gezogen oder aktiv unterdrückt, und wessen Wut Raum und Aufmerksamkeit bekommt. (...)
 
Würde ich aussprechen, dass ich wütend bin, oder meine Stimme zornig gefärbt sein, würde das, was ich sage, weniger respektiert. (...)
 
Den Zwang, meine Wut zu kontrollieren, kann ich bis heute nur aufgeben, wenn ich mich ­sicher fühle: Wenn ich schreibe und wenn ich mit Menschen zusammen bin, denen ich vertraue. Doch auf welche Seite stelle ich mich, wenn meine Wut nicht sichtbar wird? Wenn ich nach den Regeln spiele, die Ungleichheit unsichtbar machen, indem sie die Gefühle darüber bestrafen, dann solidarisiere ich mich zuerst mit denen, die von der Unterdrückung anderer profitieren.
Aus der Angst heraus, Wut zu zeigen, bleiben wir zu oft mit ihr allein oder schreiben sie ins Internet. Dabei kann Wut auch Gemeinschaft stiften, sie ist ein Gefühl, das nach echten Gesprächen verlangt und danach, einen Plan zu ­machen, der sich ihrer Ursache annimmt. Audre Lorde sagte in ihrer Rede gegen Rassismus: »Ausgesprochene und in Handlung umgesetzte Wut im Sinne unserer Visionen und unserer Zukunft ist ein befreiender und stärkender Akt der Klärung.« Daher sollten die Reaktionen auf die Wut ü­ber ­Unrecht kein Lächeln sein und kein Ausflug in den Wald, um zu schreien, sondern Ideen dafür, wie die Kraft der Wut gemeinsam mit anderen genutzt werden könnte, um ihre Ursachen zu adressieren. Es ist eine Frage des Respekts gegenüber sich selbst, die eigenen Gefühle ernst zu nehmen und sie für etwas zu nutzen. Wut kann das. Sie muss nicht destruktiv sein, sondern kann Einfälle hervorbringen, motivieren und Menschen zusammenbringen, die ein Anliegen teilen. Wir können Wut als Teil von uns akzeptieren, denn sie ist nicht das Böse, sondern erzählt uns davon, was wir brauchen und was uns ganz macht.
 
"(...) Aus Sicht einer patriarchalen Gesellschaft, in der  Männer mit aller Macht ihre Privilegien verteidigen wollen, macht das alles Sinn: solange wütende Frauen als unkonstruktiv gebrandmarkt sind, müssen ihre (wütenden) Forderungen auch nicht ernst genommen werden. Viel eher werden wütende Frauen pathologisiert, als verrückt, irrational oder gar bösartig dargestellt. Und als hässlich – in einer Welt, in der es für Frauen eine Todsünde ist, hässlich zu sein.
 
Man erinnere sich, wie erst vor einigen Jahren ein schönheitschirurgischer Eingriff beworben wurde, der Frauen von ihrem genervten Gesichtsausdruck («Resting Bitch Face») befreien sollte. Soraya Chemaly, US-Amerikanische Journalistin und Autorin, schreibt in ihrem sehr lesenswerten Buch «Speak out!»: «Wut will normalerweise Nein sagen in einer Welt, in der Frauen darauf konditioniert sind, alles zu sagen ausser Nein.»
 
Dabei haben wir Frauen sehr viele Gründe, Nein zu sagen und wütend zu sein, denn wir werden immer noch strukturell diskriminiert, wohin man blickt. Wir werden sexualisiert, objektifiziert, entmenschlicht, belästigt, abgewertet, vergewaltigt und umgebracht – weil wir Frauen sind. Es gibt meines Erachtens absolut keine adäquatere Reaktion auf die fehlende Gleichberechtigung und die Gewalt als Wut.
 
Und diese Wut muss raus. Es ist hinlänglich bekannt, dass unterdrückte Wut krank macht, Nährboden ist für Selbsthass, Ängste, Depressionen und dass sie physische Erkrankungen wie Herzkreislaufstörungen begünstigt. Lassen wir uns also nicht mehr einreden, dass wir nicht wütend sein dürfen. Denn damit, so Chemaly, berauben wir uns genau jener Emotion, die uns am besten vor Gefahr und Ungerechtigkeit schützt. Lasst uns wütend sein, liebe Frauen! Denn Wut macht uns stark und hilft, Grenzverletzungen zu erkennen. Die Kraft, die wir aus der Wut schöpfen, können wir  benutzen, um Diskriminierung zu bekämpfen. Wenn wir unsere Wut zulassen, nehmen wir uns ernst, und das ist das Mindeste, was wir uns selber schulden. (...)"
 
"(...) Es heißt in letzter Zeit häufig, Frauen müssten endlich wütender werden, um wirklich etwas zu verändern. Das ist eine Fehlinterpretation, denn Frauen sind auch jetzt schon verdammt wütend. Sie haben nur über Jahrhunderte gelernt, diese Wut unter Kontrolle zu halten. Frauen, die ausrasten, haben schon verloren, egal wie gut ihre Argumente sein mögen. Also hält man die Wut am simmern, lässt sie aber niemals überkochen. Und das kostet verdammt viel Kraft. Diese Kraft könnte tatsächlich sinnvoller genutzt werden, aber dazu müsste der Anblick einer offensichtlich wütenden Frau etwas durch und durch Normales sein und keine Schlagzeilen mehr produzieren oder Häme nach sich ziehen. (...)"
 
"(...) Im Patriarchat ist die ideale Frau ein sanftes Wesen, das sich um andere sorgt. Sie ist aufopferungsvoll und nie wütend. Sie ist so Zen, dass sie – obwohl sie so unfassbar viel zu tun und überhaupt keine Zeit zum Meditieren oder zum Entspannen hat – trotzdem stets freundlich, lächelnd und ausgeglichen ist. Wenn sie es nicht ist, wird sie als zickig oder schwierig beschrieben. Sollte sie sich auch noch aufregen, wird sie hysterisch genannt.
 
Emotion für politischen Protest
 
Diese Begriffe sollen Frauen an ihren Platz in der Gesellschaft erinnern, dankbar und lieb zu sein. Das System dient zur Kontrolle von Frauen und ihres gefährlichen Potenzials. Es gibt eine tiefe kulturelle Angst vor wütenden Frauen: Wut ist eine essenzielle Emotion für politischen Protest. (...)
 
Wer wütend ist, hat Macht. Wer sie nicht ausleben darf, wird kontrolliert. (...)
 
Aktuell werden Gefühle gegendert – von Eltern sowie Verwandten, in Partner*innenschaften, im Fernsehen, Film und in der Literatur. Es braucht bekräftigende Geschichten von wütenden Frauen, die stark und wirkungsvoll sind und von zärtlichen und fürsorglichen Männern, die stark und wirkungsvoll sind. Dann erst können Emotionen bewusst umgekehrt werden – damit es irgendwann selbstverständlich ist, dass Papa Oma pflegt. Wenn eine geschlechtsunabhängige und radikale Fürsorge im Zentrum unserer Gemeinschaft stünde, würden sich alle füreinander verantwortlich fühlen. Eine gemeinschaftliche Fürsorge.
Das würde dafür sorgen, dass Frauen wie Männer behandelt werden. Dasselbe Gehalt, denselben Anteil machtpolitischer Räume bekämen. (...)"
 
https://taz.de/Frauen-und-unerwuenschte-Gefuehle/!5834061/
"(...) Aber zusätzlich zum Mansplaining waren wir, langweiligerweise, auch wieder bei der alten Leier: Leidenschaftlich zu diskutieren oder sich für eine Sache einzubringen wird bei Frauen schnell als Hysterie ausgelegt, als unkontrollierte Wut, die sich unsachlich den Weg bahnt, während bei Männern höchstwahrscheinlich ihr leidenschaftlicher Einsatz für ein Thema nicht gleich pathologisiert worden wäre. Nein, Wut steigert sogar die Macht von Männern, wie eine Studie aus dem Jahr 2015 ergab, während sie Frauen schadet. Auch so sieht eben einer der vielen Versuche aus, Frauen stumm zu machen und sie kleinzuhalten. Wütende, sichtbare, wortstarke Frauen machen Angst vor Machtverlust. Und das macht es umso wichtiger, sich von den Hysterie-Rufer*innen nicht den Raum nehmen zu lassen, sondern ihn zu beanspruchen und auszuweiten – bis sich etwas ändert. Bis es für Frauen wirklich selbstverständlich wird, sich einzuschalten – und das nicht nur mit einem stillen Nicken. (...)"
 
"(...) Sie zeigt ganz nach Theweleit, wie Männlichkeit im Faschismus über Ablehnung alles Schwachen konstruiert ist – und Frauen gelten als schwaches Geschlecht. Der Blick von Männern auf Frauen, diesen hätten Frauen internalisiert und er führe dazu, dass sie sich selbst und einander abwerten.
 
Der Versuch von Frauen, sich aktiv von den zugeschriebenen Attributen zu distanzieren, führe laut Schutzbach letztlich zu einer permanenten Erschöpfung. Schutzbach versteht ihr Buch als Aufruf zur Imperfektion. Das angstfreie Zulassen und Ausleben von Unterschiedlichkeit funktioniere aber nur, wenn „Menschen ihre Sehnsucht nach Bezogenheit und ihre Bedürftigkeit nach Umsorgung ernst nehmen, wenn sie zueinander in Beziehung stehen, können sie sich einander verletzlich zeigen – und auch erschöpft.“
 
Am Ende des Buches wünscht sich Schutzbach eine Care Revolution. Die Studienlage dazu ist dicht: Frauen übernehmen mehr Hausarbeit, mehr Pflege, sie übernehmen im Beruf die Aufgabe, Teams zusammenzuhalten und in ihrer Freizeit die Geschenke für alle Familienmitglieder zu kaufen.
 
Dieses Bild der sich kümmernden Frau fasst die Journalistin Ann-Kristin Tlusty mit dem Bild der sanften Frau zusammen. In ihrem Buch „Süß“ beschreibt sie neben der sanften auch die süße Frau, die allzeit sexuell verfügbar ist, aber eben auch aktiv. Sie weiß, was sie will und wer old-fashioned Blümchensex mag, also „vanilla“, gilt mitunter als frigide. Und dann gebe es laut Tlusty noch die zarte Frau, die dünn und zerbrechlich ist. Sanft, süß und zart, diese Kategorien kommen als Anspruch von außen und bestimmen auch das weibliche Selbstbild.
 
Tlusty plädiert in „Süß“ aber nicht dafür, sich von diesem Selbstbild abzugrenzen, aus „sanft“ ein „stark“ zu machen: „Ich weigere mich, an die weibliche Eigenverantwortung zu appellieren und zum fröhlichen Empowerment aufzurufen.“
Ihre starke Kritik gilt deshalb dem „Potenzfeminismus“. Sie meint damit eine Art Karrierefeminismus, den bereits Angela McRobbie in „The Aftermath of Feminism“ kritisiert hat. Anstatt zu fordern, dass gleichberechtigt viele Frauen in Führungspositionen sind, möchte Tlusty eher Strukturen schaffen, die eine „sanfte Gesellschaft“ ermöglichen.
Eine sanfte Gesellschaft baue „auf einer sozialen Infrastruktur auf, die eine unkomplizierte, nicht profitgesteuerte Betreuung von Kindern, Kranken und Pflegebedürftigen ermöglicht, anstatt alles Soziale vor allem ins Private zu verlagern.“ Entsprechend solle der Care-Sektor komplett vergesellschaftet werden. (...)
 
In Virginie Despentes’ „King Kong Theorie“ von 2006 spuckt der Leserin die Wut zwischen jeder Zeile ins Gesicht. Despentes hält sich nicht damit auf, Belege für die Ungleichbehandlung von Frauen zu recherchieren. Sie listet nicht Gender Pay und Pension Gap auf, selbst der Gender Orgasm Gap wäre der ehemaligen Sexarbeiterin egal. Sie rotzt aufs Patriarchat und scheißt auf tone policing. Das ist das Wort dafür, wenn Leuten gesagt wird, sie hätten sich im Ton vergriffen. (...)"
 
https://taz.de/Feministische-Neuveroeffentlichungen/!5806878/
"(...) Noch ein anderes Phänomen greift im 19. Jahrhundert um sich, von dem fast ausschließlich das weibliche Geschlecht betroffen war. Unter großem Interesse der Öffentlichkeit wurden seit den 1870er Jahren tausende Hysterikerinnen in die neu entstandenen Nervenheilanstalten und Krankenhäuser Europas eingewiesen. Hysterie wurde zur Frauenkrankheit schlechthin. Organische Ursachen für die Anfälle der Frauen fand man allerdings keine. Die Ärzte schlussfolgerten: alles nur Übertreibung und Simulation. Man erkannte in der Hysterie nur einen weiteren Beleg für die Neigung der Frau zu Wankelmütigkeit und Unglaubwürdigkeit: "Die Hysterie ist eine organische Krisis der organischen Verlogenheit des Weibes", schrieb der Philosoph Otto Weininger noch im Jahr 1903. (...)
 
Diese wurden sexuell anstatt mystisch-religiös interpretiert. Entsprach die "stigmatisierte Jungfrau" dem Ideal der Kindfrau, die die als sündhaft empfundene weibliche Körperlichkeit durch Keuschheit überwunden hatte, neigten Ärzte und andere Deutungsinstanzen dazu, die hysterischen Anfälle der zumeist jungen Frauen zu erotisieren.
Auf den Fotografien, mit denen in Paris erstmals Krankheitsfälle dieser Art dokumentiert wurden, sind die Frauen in verzückten, fast frivol anmutenden Positionen auf ihren Betten eingefangen, die verrutschte, ohnehin leichte Kleidung der Patientinnen entblößt nackte Schultern und Beine. Die unterschiedlichen Deutungsmuster illustrieren eindrücklich die Widersprüchlichkeit des damaligen Bildes von Weiblichkeit. (...)
 
Es oszillierte noch immer zwischen heilig und sündhaft, zwischen der jungfräulichen Maria und Eva, der Verführerin. Körperliche Symptome wurden auf diese Weise zum Spiegelbild gesellschaftlich etablierter Rollenbilder - und waren zugleich Manifestationen jener Schwierigkeiten, die viele Frauen hatten, mit eben diesen verwirrenden Projektionen umzugehen.
 
Sigmund Freud nannte die Hysterie die "Krankheit des Gegenwillens". In der Tat waren die Anfälle für die Hysterikerinnen eine Möglichkeit, ihren ereignislosen Lebenswegen, ihrem auf die Rolle der Ehefrau und Mutter beschränkten Dasein zu entkommen. Man denke nur an die jüngst von David Cronenberg im Film "Eine dunkle Begierde" in Szene gesetzte Sabina Spielrein, die ihren Psychiatrieaufenthalt als Sprungbrett für ein Studium nutzt. Auch die frommen Mädchen setzten mit ihren ekstatischen Zuständen ein Minimum an Selbstbestimmung durch. Viele Ekstatikerinnen mussten sich massiv gegen die Heiratspläne zur Wehr setzen, die ihnen von ihren Familien aufgezwungen wurden.
Die beiden Phänomene häufen sich am Ende einer Epoche, in der die Bewegungsspielräume der Frauen und ihre Entscheidungsfreiheit auf bis dahin ungekannte Weise beschnitten waren. Die fortschreitende Trennung von Berufs- und Privatleben hatte eine Spaltung zwischen dem öffentlichen und dem häuslichen Leben bewirkt - und damit eine einschneidende Änderung der Geschlechterverhältnisse. Der Frau fielen Heim und Herd zu; sie fand sich von jeglichem öffentlichen Leben ausgeschlossen.
 
Es ist bemerkenswert, welche Maßnahmen man ergriff, um die Frauen genau dort festzuhalten. Sie wurden kurzerhand für geistig unmündig befunden und so - unter dem Vorwand der Moral - in Zucht und Ordnung gehalten. "Die ganze Erziehung der Frau muss daher auf die Männer Bezug nehmen. Ihnen gefallen und nützlich sein, (. . .) das sind zu allen Zeiten die Pflichten der Frau", glaubte bereits Rousseau zu wissen.
Mit einem Wandel der Geschlechterverhältnisse - nach 1900 wurden beispielsweise trotz erbitterten Widerstands immer mehr Frauen an den Universitäten zugelassen - verschwanden die hysterischen Patientinnen aus den Krankenhäusern Europas. Auch das Phänomen der ekstatischen Jungfrauen verflüchtigte sich - auf so wunderliche Weise, wie es gekommen war."
 
"Im Bereich der Norm sind Krankheit und Geschlecht eng miteinander verknüpft. In Krankheitsbildern, ihrer Interpretation und Behandlung werden „Männlichkeit“ und „Weiblichkeit“ inszeniert. Geschlechtsspezifische Krankheitsformen beinhalten darum auch kritisches Potenzial, indem sie das Leiden an Geschlechternormen demonstrieren. Bestimmte psychosomatische Störungsbilder treten bei Männern und Frauen in unterschiedlicher Häufigkeit auf und sind unterschiedlich sozial „legitim“: Essstörungen, Angststörungen und Depressionen sind vom Rollenbild her eher „akzeptabel“ für Frauen als für Männer – Frauen, das psychosomatische Geschlecht? Anhand diverser Störungsbilder wird gezeigt, wie die Anpassung an überfordernde Verhältnisse und widersprüchliche Geschlechternormen krank machen kann und wie umgekehrt Krankheit als Verweigerung von Anpassung durchaus ein Zeichen psychischer Gesundheit sein. Abschließend werden Ansätze für eine emanzipatorisch wirksame Haltung in der Psychotherapie diskutiert."
 
"(...) Im 19. Jahrhundert kam noch der „hys-
terische Charakter“ dazu. Als seine Merk-
male wurden in den Lehrbüchern und
Schriften über Hysterie um 1900 folgende
„Symptome“ genannt: ein „theatralisches“
und „posenhaftes“ Auftreten, Boshaftig-
keit, Rachsucht, ein ausgeprägtes Bedürf-
nis nach Aufmerksamkeit, „Eigensinn“ so-
wie die Neigung zu Intrigen, Lügen und
Verleumdung. Diese Eigenschaften von
Hysterikerinnen galten quasi als Steige-
rung des weiblichen Geschlechtscharak-
ters.

Mit dem „hysterischen Charakter“, der
potenziell jeder Frau zugeschrieben wur-
de, begründeten Mediziner im ausgehen-
den 19. Jahrhundert, warum Frauen kein
Zugang zu höherer Bildung und Univer-
sitäten gewährt werden sollte. Doch wa-
ren die Forderungen der bürgerlichen
Frauenbewegung so vehement und der
Druck durch die Zulassung von Frauen
zum Universitätsstudium in den umlie-
genden europäischen Ländern so hoch,
dass Frauen schließlich um 1900 an deut-
schen Universitäten dennoch zugelassen
wurden. Frauen fingen an, Medizin zu stu-
dieren. Einige Ärztinnen engagierten sich
in der Weimarer Zeit besonders in der
„Eugenischen Bewegung“ und setzten sich
für Sexualaufklärung und mehr repro-
duktive Selbstbestimmung von Frauen
ein, zugleich förderten sie auch biopoliti-
sche Interessen im Kontext qualitativer
Bevölkerungspolitik. (...)"
 

3. Weibliche Flucht(t)räume: Variationen des Hysteriediskurses
Aus dem Buch Harmoniezwang und Verstörung

degruyter.com

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