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Sabeth schreibt

Poesie Melancholie Philosophie Feminismus Anarchismus - non serviam.

Über die Rehabilitierung der Psychoanalyse (vs. Verhaltenstherapie) - über das Wirken von Psychotherapie mittels der Beziehung (!) zwischen Therapeut und Patient

"[...] Daran, dass diese Techniken millionenfach zumindest in gewissem Maß geholfen haben, besteht wenig Zweifel. Doch es bleibt der Eindruck, dass in ihrem Bild von der leidenden Seele etwas Wesentliches fehlt. Schließlich erleben wir selbst unsere Psyche und unsere Beziehungen zu anderen Menschen als verwirrend komplex. Man kann die gesamte Religions- und Literaturgeschichte als Versuch sehen, mit dieser Komplexität zurechtzukommen. Und täglich entdecken die Neurowissenschaften neue Feinheiten im Wirken des Gehirns. Können Antworten auf unsere Nöte wirklich lauten „Identifiziere deine automatischen Gedanken“ oder „Lehne dich gegen deinen inneren Kritiker auf“? Ist Therapie etwas so Berechenbares, dass wir sie auch von einem Computer erhalten könnten? [...]
 
Doch im Psychologiestudium, so stellte er dann fest, wurde einem die Faszination für die Rätsel des Unbewussten wieder ausgetrieben. Den Forschern ging es nur um Messungen und Quantifizierungen. Um Psychoanalytiker zu werden, bedarf es einer jahrelangen Ausbildung. Und es ist Pflicht, sich auch selbst analysieren zu lassen. Für psychologische Forschung an der Universität braucht man hingegen überhaupt nicht mit dem wirklichen Leben in Berührung zu kommen. Als ausgebildeter Therapeut, der zugleich wissenschaftliche Forschung betreibt, ist Shedler heute ein Sonderfall. „Haben Sie davon gehört, dass man 10.000 Stunden praktische Erfahrung braucht, um fachlich kompetent zu werden?“, fragt er. „Die meisten Forscher, die über die Wirksamkeit von Therapien reden, haben nicht einmal zehn Stunden.“
 
Bessere Langzeitwirkung
Shedlers eigene Publikationen haben die Gewissheit erschüttert, die Psychoanalyse könne keine Beweise vorlegen. Erst seit den 1990ern gibt es überhaupt empirische Untersuchungen über die Psychoanalyse, die den kognitiven Konsens infrage stellen. 2004 kam eine Metastudie zum Schluss, dass eine befristete psychoanalytische Behandlung bei vielen Leiden mindestens so gut wirkt wie andere Ansätze.
 
Nicht immer vergleichen die Studien analytische mit kognitiven Therapien, sondern oft mit der „üblichen Behandlung“, was eine ganze Palette von Methoden sein kann. Doch ein ums andere Mal zeigen sich die größten Unterschiede zwischen Analyse und Verhaltenstherapie in der Langzeitwirkung. Fragt man die Patienten am Ende des Behandlungszeitraums, wie es ihnen geht, kann die Verhaltenstherapie überzeugen. Ein paar Monate oder gar Jahre später aber ist die Wirkung oft verpufft, während die Effekte der Psychoanalyse anhalten oder sich sogar noch verstärken – die Psychoanalyse scheint imstande, dauerhaft Persönlichkeiten neu zu ordnen, anstatt Menschen bloß zu helfen, mit ihren Launen umzugehen.
 
Das schwerste Geschütz der Psychoanalytiker aber ist der Vorwurf, dass die Verhaltenstherapie seelische Leiden sogar verschlimmere. Durch Tricks, mit denen man sich Depressionen oder Ängste erträglich macht, schiebe man den Moment bloß auf, in dem man sich mit ihnen auseinandersetzen muss. Die Verhaltenstherapie verspricht eine Schritt-für-Schritt-Anleitung, um Leid zu bewältigen. Doch vielleicht bringt es mehr, uns klarmachen, wie wenig Kontrolle wir haben – über unser Leben, über unsere Gefühle, über die Handlungen anderer Menschen.
 
Erwartungsgemäß weisen Verhaltenstherapeuten die Kritik energisch zurück: Ihre Methoden würden verzerrt dargestellt, und wenn deren Wirksamkeit nachzulassen scheine, dann nur, weil sie inzwischen so weitverbreitet sei. Die frühen Studien beruhten auf kleinen Gruppen und der Arbeit weniger, enthusiastischer Therapeuten. Bei neueren Untersuchungen ist die Zahl der Probanden viel höher. Zwangsläufig seien daher auch die Therapeuten unterschiedlich begabt. „Wer behauptet, Verhaltenstherapie sei oberflächlich, redet an der Sache vorbei“, sagt Trudie Chalder, Psychologieprofessorin am Londoner King’s College. „Ja, es geht um Selbstbilder, aber nicht um leicht zugängliche Selbstbilder, sondern etwa um die tiefe Überzeugung, man sei nicht liebenswert, die aus ganz frühen Erlebnissen resultieren kann.“
 
Studien werden den Streit nicht entscheiden können, denn der Konflikt geht tiefer. Was zum Beispiel zählt als erfolgreicher Therapieverlauf? Dass Symptome abklingen? Ein Prinzip der Psychoanalyse ist, dass Symptomfreiheit nicht das Kriterium für ein sinnerfülltes Leben sein kann. Möglicherweise ist man nach der Therapie sogar trauriger als vorher – zugleich aber hat man einen festeren Stand, ist weiser geworden und besser im Bild über die eigenen Reaktionsmuster. Freud erklärte es als sein Ziel, „neurotisches Elend in gewöhnliches Unglück“ zu verwandeln. Und C. G. Jung sagte: „Der Mensch braucht Probleme, sonst kann er nicht gesund sein.“
 
Die Vorstellung, dass unsere Seele nicht mit naturwissenschaftlichen Methoden therapierbar sei, weil unser individuelles Leben sich nicht verallgemeinern lässt, ist aber bestechend. So erklärt sich wohl auch der grandiose Erfolg von Stephen Grosz’ Buch Die Frau, die nicht lieben wollte, mittlerweile in über 30 Sprachen übersetzt. Grosz stellt psychoanalytische Erkenntnisse darin als Geschichten vor, oft mit der Pointe einer blitzartigen Einsicht der Person auf der Couch in eigene Abgründe. Ein Mann lügt zwanghaft und versucht andere in seine Täuschungsmanöver mit hineinzuziehen – so, wie einst seine Mutter vertuschte, dass er ins Bett machte. Einer Frau wird, als sie einen ordentlich eingeräumten Geschirrspüler erblickt, plötzlich klar, wie hartnäckig sie die Beweise für die Untreue ihres Mannes verleugnet hat.Jedes Leben ist einzigartig, und die Aufgabe des Analytikers ist es, die besondere Geschichte des Patienten zu finden“, sagt Grosz.
 
Es mag überraschen, dass nun ausgerechnet aus der Neurowissenschaft – also aus der empirischsten Ecke der Forschung über unser Innenleben – Unterstützung für diesen scheinbar unwissenschaftlichen Ansatz kommt. Viele Experimente deuten darauf hin, dass unser Gehirn Informationen weit schneller verarbeitet, als wir sie bewusst nachvollziehen können. Unzählige mentale Prozesse spielen sich demnach, wie der Hirnforscher David Eagleman es ausdrückt, „unter der Motorhaube“ ab – unsichtbar für unser Bewusstsein. [...]
 
Mit der verhaltenstherapeutischen Grundannahme, dass sich schädliche Denkmuster gleichsam in flagranti abfangen lassen, verträgt sich diese Sichtweise nicht. Wohl aber mit der psychoanalytischen Lehre vom Unbewussten – und damit, dass unser Blick aufs Leben von unserer frühen Kindheit geprägt ist und sich nur mit Mühe verändern lässt. [...]
 
Viele Psychologen neigen mittlerweile zu der Ansicht, dass es nicht so sehr auf die Art der Therapie ankomme. Wichtig seien vor allem ein einfühlsamer, engagierter Therapeut – und die Bereitschaft des Patienten, etwas an sich zu ändern. David Pollens, der Psychoanalytiker von der Upper East Side, kann dieser Haltung viel abgewinnen: „Ein großartiger britischer Kollege stellte Medizinstudenten gerne die Frage: ‚Was, glauben Sie, ist das stärkste Medikament, das Sie Ihren Patienten verschreiben können?‘ Dann gab er selbst die Antwort: ‚Ihre Beziehung zu ihnen.‘“ [...]"
 
BINGO! - ENDLICH. Das ist genau, was ich seit geraumer Zeit sage: Wichtig, ausschlaggebend ist die Beziehung zwischen Therapeut und Patient.
 
"[...] Sigmund Freud als Mensch mag zur Überheblichkeit geneigt haben. Doch er hinterließ uns die Mahnung, wir sollten nicht glauben, dass wir wissen können, was in uns vor sich geht. Zumal wir oft mit aller Kraft versuchen, uns die Unwissenheit zu erhalten – weil die Wahrheiten, die sonst ans Licht kämen, uns verstören würden. „Therapie bedeutet, dass jemand um Hilfe bittet und dich im nächsten Moment daran zu hindern versucht, ihm zu helfen“, sagt Pollens. „Wie soll man ihm dann helfen? Eben darum geht’s bei der Psychoanalyse.“ "
 
Quelle: der Freitag - "Auf die Couch" (aus The Guardian), farbliche Hervorhebungen habe ich vorgenommen.
 
Warum außerdem immer dieses Polarisieren: das Entweder (Sozialwissenschaften) Oder (Psychoanalyse)? Warum nicht ergänzend und interdisziplinär nebeneinander, miteinander?

Warum Psychoanalyse immer nur auf ausnahmslos Freud (inklusive Irrtümern) und Jung - und beider patriarchales, autoritäres Denken, Fühlen - reduzieren und bspw. Arno Gruen, Erich Fromm, Sandor Ferenczi außenvorlassen?
 
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