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Sabeth schreibt

Poesie Melancholie Philosophie Feminismus Anarchismus - non serviam.

Verbitterung Verbitterungsstörung

"[...] "Die Verbitterung", sagt Linden, "ist eine Mischung aus Aggressivität und Resignation, aus Rachegefühl und Selbstzerstörung."

Das biografische Scheitern wird vor allem empfunden, wenn zentrale Werte einer Person verletzt werden. Linden nennt das die "basic beliefs", die wir schon früh entwickeln: Leistung lohnt sich. Liebe ist ewig und heilig. Gott ist gut. Der entlassene Angestellte glaubte fest an die Wertschätzung von Loyalität und Fleiß. Die verlassene Ehefrau und Mutter an ihre Aufopferung für die Familie. Die Betroffenen fühlen sich stets ungerecht behandelt und verraten - vom Partner, vom Chef, vom Staat, vom Schicksal.
Sie sind in ihrem täglichen Leben beeinträchtigt, meiden Orte und Menschen, die sie an das negative Erlebnis erinnern, sind gereizt, bedrückt und werden immer wieder von Erinnerungen eingeholt. Erfüllt von Rachegefühlen, erleben sie sich als hilflos und ausgeliefert. [...]

Anders als bei der posttraumatischen Belastungsstörung, unter der viele Menschen nach Katastrophen und Kriegen leiden, sind sich verbitterte Menschen oft gar nicht im Klaren darüber, dass sie Hilfe brauchen. [...]

"Wir üben den Perspektivwechsel, sie sollen ihren Absolutheitsanspruch aufgeben und sich in ihr gehasstes Gegenüber einfühlen: Werterelativismus zulassen, Gelassenheit lernen, das Leben als Ganzes betrachten." Emotionale Intelligenz heißt das andernorts. [...]
 
Weil die Betroffenen sich nur als Opfer sehen, erkennen sie nicht, dass sie sich selbst helfen können. "Sie sind oft bissig und zynisch, auch den Therapeuten gegenüber." Empathie und Toleranz zum Beispiel helfen, das Handeln anderer zu verstehen und nicht persönlich zu nehmen.
Humor schafft emotionale Distanz und größeren Handlungsspielraum. Auch das Aushalten von Unsicherheit oder die Erkenntnis, dass sich die Welt nicht immer um die eigene Person drehen muss, gelten als "Weisheitskompetenzen", die trainiert werden können. [...]

Verbitterte Patienten wollen oft ihr Recht durchsetzen oder sich rächen. Doch wenn der Partner untreu war oder der Job gekündigt wird, lässt sich das nicht einfach rückgängig machen. Wer erbittert um Recht und Rache kämpft, kann sich nicht gut fühlen: "Rache ist nicht süß", sagt Linden, im Gegenteil, sie führe zu Scham und Schuldgefühlen. [...]"
 
Quelle: spiegel.de - "Der Feind in dir"
 
Man erkennt deutlich AfD-Wähler, auch den Kulturpessimisten, Konservativen in dieser Beschreibung.
 
Es ist so viel einfacher, bequemer, wütend zu sein, sich in Wut, Groll, Projektion und Täter-Opfer-Umkehr, Opferrolle (nicht zu verwechseln mit Opferstatus) zu verkriechen, sich der Verbitterung hinzugeben, als die dahinter-, darunterliegenden G e f ü h l e - Schmerz, Traurigkeit, Einsamkeit, Sehnsucht, Bedürftigkeit, Scham, Verletzlichkeit, somit auch Hilf-, Haltlosigkeit - zuzulassen, sie zu empfinden, also zu e r l e i d e n und durch verändertes angemessenes Sozialverhalten, auf Basis von Reflexion, Selbsterkenntnis, Einsicht und Mitgefühl, zu bewältigen.

Letzteres, das Bewältigen, ist so viel unbequemer, mühevoller, anstrengender und eben zumeist auch schmerzhafter - Stichworte Scham, Schuld, Selbstbild, Selbstverständnis, Selbstachtung, Identität - deshalb wird versucht, diesen Reifungs- und Heilungsprozess zu umgehen. Er wird auf diese Weise, mittels der Verbitterung, des Selbstbetrugs, aktiv (wenn auch häufig unbewusst) verhindert, unmöglich gemacht.
 
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Michael Lindens humoriger Vortrag (vom 05. Mai 2018, siehe oben verlinkt, RPP Institut) zu pathologischer Verbitterung:
 
Aggression unter Inkaufnahme der Selbstzerstörung, Verbitterungsstörung - Enttäuschung, Kränkung, Wut, Hass, Rache, Groll, Negativität, Scham, Hilflosigkeit, Ausweglosigkeit, Hoffnungslosigkeit und Heilung durch Verzeihen, Versöhnung auf Basis von Empathie, Mitgefühl
 
Es ist nicht "nur" das Verzeihen, sondern auch das Versöhnen erforderlich, um wieder gemeinsam ohne Wut, Groll, Hass, Verbitterung, Rache, Angst in derselben Welt leben zu können. Es bedarf dafür des Ausgleichs, der - zumeist beidseitigen - Wiedergutmachung.
 
Martha Nussbaum: "Gerechtigkeit braucht Liebe".

Zu Liebe, Mitgefühl, Schmerz siehe Erich Fromm und Arno Gruen.
 
Was Linden gegen Ende über die einseitige "Vergebung" äußert, ist Selbstbetrug - zum Zwecke der Selbstschonung, Selbstentlastung.
 
Ein Schaden, der erlitten und zugefügt wurde, kann nicht einseitig heilen, so wenig wie es einseitigen Frieden geben kann. Was durch Beziehung (zwischenmenschlichen Kontakt, Interaktion) erlitten und getätigt wurde, kann auch nur durch Beziehung wieder ausgeglichen, geheilt werden.
 
"Verbittert ist der schwer zu Versöhnende, der lange den Zorn festhält; er verschließt die Erregung in seinem Innern und hört damit erst auf, wenn er Vergeltung geübt hat. Denn geübte Vergeltung beschwichtigt die Erregung, indem sie das Gefühl des Schmerzes durch ein Gefühl der Befriedigung ersetzt. Geschieht das nicht, so wirkt der Druck weiter. Denn da die Erregung nicht offen heraustritt, so kann einem solchen auch keiner gut zureden; innerlich aber die Erregung zu verarbeiten, dazu braucht es der Zeit. Diese Art von Menschen ist sich selbst und den vertrautesten Freunden die schwerste Last. Von denjenigen dagegen, die aus Anlässen sich aufregen, wo es nicht der Fall sein sollte, oder heftiger und längere[86] Zeit aufgebracht sind als recht ist, und die sich ohne Vergeltung und Rache zu üben nicht versöhnen lassen, von diesen sagt man, sie seien schwer zu behandelnde Leute."
Aristoteles, Nikomachische Ethik
 
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"[...] Linden fand heraus, dass die Betroffenen seit ihrer Kindheit in einem engen Korsett aus Normen und Werten leben. Grundsätze wie "Erst die Arbeit und dann das Vergnügen" bestimmen ihre Existenz. Solange bis diese durch ein traumatisierendes Ereignis erschüttert werden.

Entscheidend ist, dass die Patienten durch ein Lebensereignis in zentralen Werten verletzt werden, auf die sie ihr Leben aufgebaut haben. Wenn das ganze Leben auf einer Karte aufgebaut ist und an dieser Stelle kommt ein Ereignis, das die Werteordnung verletzt kann es zu einer solchen Verbitterungsstörung kommen. [...]"
 
Quelle: Deutschlandfunk - "Posttraumatische Verbitterungsstörung"

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