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Sabeth schreibt

Poesie Melancholie Philosophie Feminismus Anarchismus - non serviam.

Über den Selbstbetrug

 
Über den Selbstbetrug, die Selbsttäuschung, die Selbstschonung
 
Der Selbstbetrug fungiert im Grunde als eine Art Krücke, mittels der der sich selbst Betrügende (und damit häufig, fast zwangsläufig, mehr oder weniger auch andere Betrügende) es vor allem eben sich selbst leichter, erträglicher machen will bzw. de facto macht, d.h. seine persönliche Situation, Verfassung, Befindlichkeit, sein Selbstbild schönen, um es mit sich selbst und "in der Welt", in seiner persönlichen Lebenssituation, seinen Lebensverhältnissen, -umständen, seinen Beschädigungen und Defiziten aushalten zu können.
 
Für diesen Selbstbetrug flüchten sich Selbstbetrüger bekannterweise bspw. in den religiösen Glauben (siehe die dahinterstehende Suche nach Halt, Trost, auch nach Verantwortung, wenigstens teilweise, abgeben können/wollen), in Aberglauben, Esoterik, Mystik und in Sucht (bspw. Substanzabhängigkeit), außerdem in Hedonismus (siehe kompensatorischen Konsum, Rausch, kurzfristige, vorübergehende Spaßerlebnisse und Glücksgefühle, die zwangsläufig nicht gleichbedeutend, nicht gleichwertig mit Freude sind und mit dieser sowie mit Lebenszufriedenheit auch nicht gleichsetzbar sein können) und Eskapismus, siehe wiederum bspw. Mystik.
 
Häufig anzutreffen ist solches Verhalten bei narzisstisch, anti-, dissozial persönlichkeitsgestörten Menschen.

So verständlich, vermeintlich "menschlich" (?) das wenigstens teilweise sein, zumindest scheinen mag, so moralisch verwerflich ist es immer dann, wenn unter den Folgen dieses Selbstbetrugs andere Menschen leiden (mehr oder minder: müssen), denn dann zeigt sich, dass der Selbstbetrug letztendlich nichts anderes ist als ein Symptom, eine Form von Egomanie, Selbstsucht, Ignoranz, Gleichgültigkeit, mangelnder "Moral", fehlendem Mitgefühl und Verantwortungsbewusstsein - ein Entziehen, Verweigern all dessen zum Zwecke der bequemen, behaglichen Selbstschonung.

Indem der sich selbst Betrügende die Realität oder Aspekte derselben ausblendet, verdrängt, umdeutet oder gänzlich leugnet, indem er eigene (charakterliche) Defizite, persönliche Unzulänglichkeiten, daraus resultierendes eigenes Fehlverhalten auf diese Weise verdrängt oder leugnet, muss er weder vor sich selbst noch vor anderen über eben dieses Fehlverhalten Rechenschaft ablegen; er macht es sich leicht: auf Kosten, zu Lasten anderer, die mit den Folgen dessen leben, sie "ausbaden", sie aushalten, erleiden müssen - manchmal nur ein einziges Mal, häufig jedoch wiederholt oder auch regelmäßig, langandauernd.

Der selbstschonende Selbstbetrug fungiert wie schon gesagt als Krücke, als Flucht, als eine Art Asyl, "Rettungsinsel"; der Selbstbetrüger tätigt den Selbstbetrug aus kompensatorischen Gründen - er muss sich auf diese Weise seinen ureigenen Defiziten und Unzulänglichkeiten, seinen eigenen Verfehlungen, der "Wahrheit", den Tatsachen über sich selbst, seine Person, seine Persönlichkeit, d.h. sein Selbstverständnis und Selbstbild betreffend, nicht stellen, er muss sich nicht mit Scham und Schmerz über diese konfrontieren - er weicht aus, er flieht, er knickt ein, schont sich - und macht eben hiermit Persönlichkeitsreifung unmöglich.
 
Er will den Schmerz nicht spüren, erleiden, ertragen und meidet die Anstrengung, die Mühe, die Verletzungen, die die Konfrontation, d.h. das Erkennen des eigenen Selbst, der eigenen Unzulänglichkeiten zumeist mit sich bringen. Und er meidet insbesondere die Folge der Selbsterkenntnis: ein entsprechend verändertes, zu veränderndes Verhalten - ein prosoziales, mitfühlendes, kooperatives, fürsorgliches, verantwortungsvolles, gebendes. Er meidet bzw. verweigert also, sich selbst zurückzunehmen, wenn/wo es für das Gemeinwohl, für den Anderen (gerade auch den fremden Anderen) erforderlich ist - er verweigert diese Anstrengung.

Der Selbstbetrüger spinnt sich einen Kokon, in dem er es sich - ausschließlich für sich selbst - behaglich einrichtet, so, dass er für "den Anderen" (für andere) kaum bis gar nicht mehr erreichbar, zugänglich ist.
 
Und um trotz all dessen nicht als unsozial, als Egomane, als Verräter dazustehen, flüchtet er sich wiederum in seinen Selbstbetrug, der ihm mittels massiv verengter, ich-bezogener, die Realität "umdeutender", d.h. die Realität verweigernder Perspektive (auf sich selbst und "die Welt") endlose (Selbst-) Rechtfertigungen ermöglicht.

Was der Selbstbetrüger mittels dessen, seines Selbstbetrugs, augenfällig demonstriert, ist (seine) Schwäche, seine geistige wie emotionale Kleinheit - das Gegenteil also von Rückgrat, Charakterstärke, Souveränität, Bewusstheit, Reflektiertheit, Wahrhaftigkeit, Gewissenhaftigkeit, Selbsterkenntnis, Reife.
 
Verletzlichkeit, Bedürftigkeit, Schmerz, Teilen, Geben, sich selbst zurücknehmen, Verzichte leisten, wo es für andere geboten oder tatsächlich erforderlich ist (jedenfalls wäre): all dem entzieht, verweigert sich der Selbstbetrüger bequem, selbstschonend, egoman durch seinen Selbstbetrug, seine Selbstlügen. Mit entsprechenden Folgen für "andere", seine Umwelt, seine Mitmenschen ... .
22.07.2020
 
Die Art menschlicher Schwäche, die mir am intensivsten zuwider ist, ist der Selbstbetrug - in dessen Folge der auf diese Art Schwache lieber andere Menschen wissentlich beschädigt - bis hin zu Mord und Krieg - als (seine) Gefühle der Schuld, Scham, Kränkung, des Unterlegen-, Verletzlich-, Bedürftigseins ertragen zu müssen, als um Verzeihung zu bitten und Wiedergutmachung zu leisten und: zu reifen.
 
Selbst- und fremdschädigendes Kompensationsverhalten. Nicht selten bis ans Ende des Lebens getätigt.
 
Aktualisierung am 01. Dezember 2018
 
Die gravierendste menschliche Schwäche ist der Selbstbetrug.
Denn sowohl gründen sich sämtliche anderen charakterlichen - moralischen, psychisch-emotionalen, sozialen - Unzulänglichkeiten und Defizite eines Menschen hierauf als auch resultieren sie aus selbigem.
 
Besonders stark ausgeprägt ist der selbstschonende, kompensatorische Selbstbetrug augenfällig bei anti-, dissozial, narzisstisch persönlichkeitsgestörten Menschen.
 
Dass so viele Zeitgenossen noch immer meinen, es sei Zeichen, Ausdruck von Stärke, Macht, ihre psychisch-emotionalen und sozialen Defizite, Unzulänglichkeiten, ihr Fehlverhalten zu leugnen, verborgen zu halten und jene, die diese Schwächen, Fehler, Defizite aufdecken, sie als solche benennen, skrupellos, nicht selten auch gewaltsam zum Schweigen zu bringen versuchen.
 
Dass sie nicht erkennen können, dass dieses Verhalten das Gegenteil von Charakterstärke, Größe, Souveränität, Courage, Rückgrat, Integrität und Reife ist, sondern nur überdeutlich ihre Angst vor Ablehnung, Zurückweisung, (sozialer) Verurteilung, Ausgrenzung, ggf. auch Strafe offenlegt und ihre Scham.
 
Dass sie sich lieber feige, bequem, dem vordergründig, vorläufig behaglichen, selbstschonenden Selbstbetrug hingeben, der Selbstflucht, statt beherzt, reflektiert und couragiert zu ihrem Fehlverhalten ... zu stehen, um Verzeihung zu bitten - Schuldeinsicht auf Basis von Mitgefühl zu haben und Verantwortung für ihr Tun zu tragen - und um Wiedergutmachung, Ausgleich sowie Persönlichkeitsreifung bemüht zu sein, wo erforderlich, dies mit (professioneller, bspw. therapeutischer) Unterstützung.
 
Dass sie lieber die Täter-Opfer-Umkehr, die Manipulation, das Silencing tätigen und mittels all dessen doch letztlich am intensivsten sich selbst beschädigen.
 
Das ist nicht nur beklagenswert, sondern häufig zahlreiche Menschen beschädigend und destruktiv.
Es ist schwach, es ist arm, es ist unreif. Und leider oft sehr hässlich.

Das Gute missfällt uns, wenn wir ihm nicht gewachsen sind.

Friedrich Nietzsche - Menschliches, Allzumenschliches

16. Oktober 2018
 
Ein großes Übel, viel Leid verursachend ist, dass es in dieser Welt zu viele Menschen gibt, die lieber sterben und andere sterben, leiden l a s s e n, als ihre ureigenen Fehler, Defizite, Unzulänglichkeiten zuzugeben und dafür - für zugefügtes Leid, Schmerz, Verletzung, Beschädigung - um Verzeihung zu bitten sowie um Wiedergutmachung bemüht zu sein.
 
Sie verdrängen, leugnen stattdessen lieber, tätigen die Täter-Opfer-Umkehr, beschädigen andere "kompensatorisch", missbrauchen sie, stilisieren s i e zu Tätern und sich selbst zu "Opfern", bauen Feindbilder auf - um den Schmerz, den sie aufgrund eigenen (einstigen) Beschädigtwordenseins nicht fühlen wollen, stellvertretend, kompensatorisch an anderen auszuagieren.

Sie sind emotional taub, versehrt, es mangelt ihnen intensiv an Mitgefühl und Selbstreflexion.

Eine gewichtige Rolle spielt auch die Scham, die angesichts der eigenen charakterlichen Defizite, Unzulänglichkeiten, gemachten Fehler, verursachten Schäden empfunden, jedoch mit allen Mitteln zu verbergen, auch vor sich selbst zu unterdrücken versucht wird.
Denn diese Scham ist zumeist schwer erträglich, konfrontiert sie doch nochmals so intensiv mit eben den eigenen, vorhandenen, augenfälligen Defiziten, Unzulänglichkeiten, Fehlern oder auch sogar Verbrechen - Verletzungen, Beschädigungen, die man anderen zugefügt hat: aus niederen Beweggründen, aus Selbstsucht, Ignoranz, Bequemlichkeit, Überheblichkeit oder auch auf Basis/als Folge von Hass.
 
Solches Verhalten findet sich auf basalster Ebene - in Familie, Beziehungen, Freundschaften - sowie auf politischer Ebene und überall auf der Welt verbreitet. Und Folge dessen ist stets nur weiteres, noch intensiveres Leid.
Es bedarf keiner Religion, um sich fair, mitfühlend, verantwortungsvoll, rücksichtsvoll, hilfsbereit, nicht-paternalistisch, stattdessen bedürfnisorientiert fürsorglich, solidarisch, also prosozial verhalten zu können.
 
Es bedarf keiner Religion, keines religiösen Glaubens, keiner Metaphysik, um ein gewissenhafter, integrer, prosozialer, (selbst-) reflektierter, reflektierender Mensch zu sein, sein zu können.
 
Es bedarf allerdings des intakten (!), stark ausgeprägten, aktiven Mitgefühls und der Reflexionsfähigkeit, der Selbstkritik, des Sich-Hinterfragens, des kritischen Zweifels (inkl. Selbstzweifels) - der Vernunft, der Persönlichkeitsreife also.
Es ist dies intrinsische Moral, statt religiös, ideologisch oktroyierter, indoktrinierter.
 
Je unreifer ein Mensch, Individuum, eine Persönlichkeit ist, umso eher wird sie die Krücke der Religion, des religiösen Glaubens brauchen.
Je reifer die Persönlichkeit ist, umso autonomer, besonnener, vernünftiger, tief mitfühlender, liebesfähig(er) ist sie - wenn man so will, auch "weise".
 
Ja, es geht beim Mitfühlen immer auch darum, Schmerz zulassen zu können - eigenen, der durch den wahrgenommenen Schmerz, das Leid anderer hervorgerufen wird.
 
"Absolution", die Entlastung, Befreiung von der (jeweiligen) Schuld bzw. dem Schuldgefühl und der Verantwortungslast in Bezug auf eine antisoziale Tat, eine Gewalttat, ein erhebliches Fehlverhalten, ein Beschädigen anderer, erhalte ich nicht von einem "Gott", einer Chimäre gewährt, sondern es ist der Andere, die beschädigte Person, das Opfer, mit dem ich auf Basis von Schuldeinsicht, Verantwortungsüberahme, Mitgefühl, Wiedergutmachung, Verzeihen und Versöhnen zur Schuldbefreiung gelange. Denn dieser Person gegenüber bin ich verantwortlich, in i h r e r Schuld stehe ich durch meine Tat.
 
Ein phantasiertes metaphysisches Konstrukt - "Gott" - führt nicht aus dem Selbstbetrug heraus, sondern nur tiefer in selbigen hinein.
 
"[... ] Narzissten sind auf die Bestätigung von außen angewiesen, um das eigene Selbst zu stabilisieren. Zugleich erschweren es ihnen Defizite im Einfühlungsvermögen in andere Menschen, gleichberechtigte, stabile Beziehungen aufrechtzuerhalten. Ihr ausgeprägter Eigenbezug dient überwiegend dazu, soziales Unbehagen und zwischenmenschliche Unsicherheit zu kaschieren.
 
„In näheren Beziehungen können die Betroffenen durchaus charmant und betörend wirken, um ein positives Feedback zu erhalten. Manche gehen mit anderen Menschen aber auch geradezu manipulativ vor, um ihre Ziele zu erreichen. Beziehungen werden dabei oft von beiden Seiten nur solange aufrechterhalten, solange Bewunderung für den Narzissten vorhanden ist. Das Umfeld lässt sich so ein Verhalten meist nicht lange bieten. Narzissten lassen wiederrum andere Menschen manchmal von einem Moment auf den anderen fallen, wenn diese nicht länger dazu beitragen, das Selbstwertgefühl des Narzissten zu bestärken oder dessen Ziele zu erfüllen. Empathische Defizite tragen dazu bei, dass ein rücksichtsloser und verletzender Umgang mit Menschen aufrechterhalten wird“, ergänzt Prof. Falkai. Früher oder später fühlen sich Personen mit narzisstischer Persönlichkeitsstörung oft sehr alleine und entwickeln einen großen Leidensdruck unter ihren problematischen Persönlichkeitszügen. Kritik an ihren Leistungen, Zurückweisung oder auch Kränkungen erleben sie als überaus schmerzlich und tiefgreifend bis hin zu einer existentiellen Bedrohung. Ein Teil von ihnen erlebt schwere depressive Krisen bis hin zur Entwicklung von Suizidgedanken. Die narzisstische Persönlichkeitsstörung geht mit einer hohen Suizidrate von 14 Prozent einher.

Keine Krankheitseinsicht – Die Probleme liegen bei anderen

Es liegt in der Natur der Störung, dass sich Menschen mit narzisstischer Persönlichkeitsstörung nur selten Hilfe holen. Viele Betroffene verschließen sich vehement vor Kritik an ihren Persönlichkeitszügen. Suchen sie Hilfe auf, geschieht dies oft vor dem Hintergrund, das andere Probleme mit ihnen haben, die behoben werden müssen - nicht aber, dass sie ein Problem bei sich selber sehen. Häufig führen erst Folgeerkrankungen wie eine Depression oder eine Suchterkrankung zu professioneller Hilfe. „Bei den therapeutische Maßnahmen steht im Vordergrund, dass die Störung in erster Linie in einem zwischenmenschlichen Interaktionsproblem besteht, das auf Empathie-Mangel, Schüchternheit und Angst vor negativer Bewertung besteht. Das Empathie-Vermögen kann dann beispielsweise durch Rollenspiele erarbeitet werden. Empathie ist wiederum die Voraussetzung, um mit dem Feedback und der Kritik durch andere besser umgehen zu können“, illustriert der DGPPN-Experte. Patienten werden auch darin unterstützt, Veränderungen in ihren Alltagsbeziehungen vorzunehmen, wodurch sie letztlich selbst ihr Alltagsverhalten verändern müssen. [...]"
 
Farbliche Hervorhebungen habe ich vorgenommen.
 
 
"[...] Dieser Verrat am eigenen Wissen stellt keine Ausnahme dar. Viele Menschen hegen ihr Leben lang ähnlich grundfalsche Urteile über ihre Eltern, aus verdrängter Angst, die eigentlich die Angst des sehr kleinen Kindes vor den Eltern ist. Sie bezahlen diesen Selbstverrat mit Depressionen, Selbstmord oder schweren Erkrankungen, die zu einem frühen Tod führen. Fast immer lässt sich in Fällen von Suizid feststellen, dass grausame Kindheitserfahrungen völlig verleugnet oder niemals als solche erkannt wurden. All diese Menschen wollten von ihrem frühen Leiden nichts wissen und lebten in einer Gesellschaft, die dieses Leiden ebenso ignoriert. [...]
 
Sein Leben wird deshalb ungefähr so verlaufen, wie die Wanderung eines Menschen, der gerade am Anfang seinen Fuß verstaucht hat, aber dies nicht wahrhaben will und so tut, als ob ihm eigentlich nichts geschehen sei. Sollte er aber doch Menschen begegnen, die über die lang andauernden Auswirkungen von Kindheitstraumen Bescheid wissen, hat er die Chance, seine Verleugnung aufzugeben und auf diese Weise die einst erlittenen Wunden womöglich ausheilen zu lassen. [...]
 
Das Leben (und Sterben) all dieser erfolgreichen Stars bezeugt, dass die Depression nicht ein Leiden an der Gegenwart ist, die ihnen ja die optimale Erfüllung aller Träume brachte; sondern ein Leiden an der Trennung vom eigenen Selbst, das früh verlassen und niemals betrauert wurde, folglich nicht leben durfte. Es ist, als würde der Körper mit Hilfe der Depression gegen diese Untreue sich selbst gegenüber, gegen die Lüge, gegen die Abspaltung der wahren Gefühle protestieren, weil er ohne authentische Gefühle gar nicht leben kann. Er braucht den freien Fluss der Emotionen, die sich auch ständig verändern: die Wut, die Trauer, die Freude. Wenn diese in der Depression blockiert sind, kann der Körper nicht normal funktionieren.  Um ihn dazu trotzdem zu zwingen, werden allerlei Mittel eingesetzt: Drogen, Alkohol, Nikotin, Medikamente, die Flucht in die Arbeit. All das, um die Revolte des Körpers nicht verstehen zu müssen, um nie zu erfahren, dass uns die Gefühle nicht umbringen, sondern uns im Gegenteil von dem Gefängnis, das sich Depression nennt, befreien können. [...]
 
Ich vermute, dass der Gedanke, man wurde von den eigenen Eltern nicht geliebt, für die meisten Menschen unerträglich ist. Je mehr Fakten auf diesen Mangel hinweisen, umso stärker klammern sich diese Menschen an die Illusion, sie seien geliebt worden. Sie klammern sich auch an die Schuldgefühle, die ihnen bestätigen sollten, dass es an ihnen lag, an ihren Fehlern und ihrem Versagen, wenn die Eltern nicht liebevoll mit ihnen umgegangen sind. In der Depression rebelliert der Körper gegen diese Lüge. Viele Menschen möchten dann lieber sterben oder symbolisch sterben, indem sie ihre Gefühle abtöten, als die Ohnmacht eines kleinen Kindes zu erleben, das von den Eltern nur für deren Ehrgeiz oder nur als Projektionsscheibe ihrer aufgestauten Hassgefühle gebraucht wird. [...]
 
Die Tatsache, dass die Depression zu den häufigsten Erkrankungen unserer Zeit gehört, ist unter Fachleuten kein Geheimnis mehr. Das Thema wird häufig auch in den Medien angeschnitten, man diskutiert über die Ursachen und die verschiedenen Behandlungsmethoden. In den meisten Fällen scheint es nur darum zu gehen, für den Einzelnen die geeigneten Psychopharmaka zu finden. Die Psychiatrie behauptet heute, dass endlich Medikamente entwickelt werden konnten, die nicht abhängig machen und keine Nebenwirkungen aufweisen. Damit scheint ja das Problem gelöst zu sein. Aber warum klagen trotzdem so viele Menschen über Depressionen, wenn die Lösung so einfach ist? Natürlich gibt es Leidende, die keine Medikamente einnehmen wollen, aber auch unter denen, die sie einnehmen, gibt es einige, die trotzdem immer wieder von Depressionen heimgesucht werden und denen auch jahrzehntelange Psychoanalysen, andere psychotherapeutische Versuche oder Klinikaufenthalte nicht helfen konnten, sich zu befreien.  [...]
 
Denn die Depression ist in jedem Alter nichts anderes, als die Flucht vor all den Gefühlen, die die Verletzungen der Kindheit aufleben lassen könnten. Damit entsteht im Betroffenen eine innere Leere. Wenn die seelischen Schmerzen um jeden Preis gemieden werden müssen, bleibt im Grunde nicht viel übrig, was die Lebendigkeit erhalten würde. Man kann mit außergewöhnlichen Leistungen auf intellektuellem Gebiet aufwarten, aber innerlich kann man als emotional unentwickeltes Kind sein Dasein fristen. Das gilt für jedes Alter.
 
Die Depression, die diese innere Leere spiegelt, ist wie gesagt das Resultat der Vermeidung von allen Emotionen, die mit den früh erfahrenen Verletzungen verknüpft sind. Das führt dazu, dass ein depressiver Mensch auch bewusste Gefühle kaum noch erleben kann. Es sei denn, dass er, ausgelöst durch ein äußeres Ereignis, von Gefühlen überflutet wird, die völlig unverständlich bleiben, weil ihm die wahre, nicht idealisierte Geschichte seiner Kindheit unbekannt ist und er diesen Einbruch der Gefühle wie eine plötzliche Katastrophe erlebt. [...]
 
Das Endprodukt eines Wahns findet großes Interesse. Doch dessen Entstehen ist von tiefem Schweigen umgeben, weil wir die Genese dieser Erkrankung nicht verstehen können, ohne die Lieblosigkeit und Grausamkeit der Eltern aufzudecken. Und das macht den meisten Menschen Angst, weil es sie an das eigene Schicksal erinnern könnte.
 
Es ist die Angst der missachteten oder gar tyrannisierten Kinder vor dem wahren, unverstellten Gesicht ihrer Eltern, die Angst, die uns zum Selbstbetrug und damit in die Depression führt. Nicht nur die einzelne Person, sondern fast uns alle, die ganze Gesellschaft, die glaubt, dass Medikamente das Problem nun ein für alle Mal gelöst haben. Doch wie sollte dies möglich sein? Die meisten von mir erwähnten Selbstmörder nahmen Medikamente, aber ihr Körper ließ sich nicht täuschen und lehnte ein Leben ab, das im Grunde keines war. Die meisten Menschen halten ihre Kindheitsgeschichte tief in ihrem Unbewussten begraben und haben es ohne Begleitung schwer, an ihre Ursprünge heranzukommen, auch wenn sie es wollten. [...]
 
Wenn er diese Gefühle erleben und ernst nehmen darf, kann er sich näher kommen und die Barrieren der Moral überwinden. Dann ist es ihm möglich, sich mit seiner Vergangenheit und seinen verinnerlichten Eltern zu konfrontieren und mit ihnen anders als bisher umzugehen. Aus dem wachsenden Bewusstsein heraus und nicht aus der kindlichen Angst. [...]"
 
Deshalb Psychoanalyse. Deshalb heilende Beziehung. Deshalb Berührung - das Zulassen des Berührtwerdens, tiefer, intensiver, auch verstörender, ambivalenter, ggf. beängstigender, verunsichernder Gefühle.
Siehe hierzu auch Arno Gruen ("Verrat am Selbst") und Erich Fromm ("Anatomie der menschlichen Destruktivität", "Die Kunst des Liebens").
 
Es gibt so viele Menschen, die sich antisozial bis sadistisch verhalten und entscheiden - gerade Menschen in "Führungs-, Entscheidungs-, Machtpositionen" in Politik und Wirtschaft - dass ich davon ausgehe, sie halten all das Negative, Schädigende, das sie tun, das sie anderen antun, selbst für richtig, anderenfalls könnten sie es nicht lange mit sich selbst aushalten; stattdessen unterwerfen diese Menschen sich dem Selbstbetrug, eben um sich selbst, ihre Entscheidungen, ihr Verhalten vor sich und anderen irgendwie moralisch vermeintlich rechtfertigen zu können.

Deshalb halte ich den Selbstbetrug für letztlich und tatsächlich die schwerwiegendste menschliche Schwäche, da sie, d.h. der Selbstbetrug, alle anderen erst "ermöglicht", verdeckt, "rechtfertigt" bzw. Verdrängung dieser anderen Defizite und Unzulänglichkeiten ermöglicht.

Der Selbstbetrug dient einzig der kompensatorischen Selbstschonung - zumeist zu Lasten anderer.

Es müsste in dieser Welt - in Schulen, in "Erziehung", im zwischenmenschlichen Miteinander - viel mehr um Verantwortung, Solidarität und vor allem je persönliche Integrität sowie um Mitgefühl gehen - würde all d a s gefördert (statt zerstört!) und nicht - wie bisher, wie im globalen patriarchalen Kapitalismus - Konkurrenz, Leistung, Kampf, Hierarchie, Macht, Gewalt, so kämen wir allmählich zu weltweit lebenswerteren Verhältnissen.

Das Gegenteil passiert jedoch nach wie vor und wird von der Mehrheit (?) der Menschen offenbar für richtig gehalten, jedenfalls für "normal" - sonst riefen sie nicht nach "mehr Sicherheit", nach Strafe und strebten nicht Reichtum, Besitz, Titel oder "Ruhm" an, sondern hätten völlig andere Ziele, Ideale, Werte: tatsächliche, gelebte Parität, Säkularismus, Kooperation, Solidarität, soziale Gerechtigkeit, Gemeinwohl, Gewaltlosigkeit, Herrschaftslosigkeit, bedürfnisorientierte Unterstützung und Fürsorge, Selbstbestimmung, Verantwortung, Mitgefühl, Liebe.

Dass Menschen all das zuletzt Genannte zu leben durchaus möglich ist, dass sie dazu sehr wohl "fähig" sind, dass "der" Mensch eben n i c h t "des Menschen Wolf", dass er nicht "von Natur aus schlecht, böse, schwach" ist, beweisen all jene Menschen, die sich aus freien Stücken anderen Menschen, anderen Lebewesen gegenüber mitfühlend, prosozial, fair, gewissenhaft, nicht-paternalistisch fürsorglich und altruistisch verhalten (wollen und können), die sich für das Wohl anderer, auch ihnen völlig fremder Menschen oder auch Tiere und Pflanzen engagieren, die nicht nach Macht und Unterwerfung oder Reichtum streben, sondern nach tasächlichem Gemeinwohl.

Solche Menschen werden von den Hassenden, den pathologischen, egomanen Narzissten, den selbstsüchtigen Machtgeilen, Spaltern und Selbstbetrügern bekanntlich abwertend als "Gutmenschen" bezeichnet. Denn sie selbst sind aus diversen Gründen nicht (mehr) in der Lage, sich selbst in angemessener, gebotener, prosozialer ... Weise zu verhalten, drum ertragen sie die "Güte" anderer nicht und diskreditieren diese deshalb.
 
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Aktualisierung am 06. Mail 2019
 
Nochmal: Ich habe kein Problem mit Schwäche - wir sind alle nicht perfekt, keine Roboter, keine "Götter", sondern Menschen - fehlbar. Wir können und müssen uns irren, aus Fehlern, aus Erfahrungen lernen, uns entwickeln, daran reifen wollen. Stichworte Fehlerkultur, Persönlichkeitsentwicklung.
 
Was mich aber maximal abstößt, ist, wenn Menschen ihre je persönlichen Fehler, Schwächen, Defizite, Unzulänglichkeiten, insbesondere ihre charakterlichen, d.h. psychisch-emotionalen und sozialen, entweder nicht sehen wollen, sie daher leugnen, verdrängen oder sie durchaus selbst kennen, darum wissen, sie aber unter allen Umständen und um jeden Preis (!) verborgen zu halten versuchen oder sie verharmlosen oder sie häufig auch auf andere Menschen projizieren, sie diesen unterstellen, anhängen. Kompensation, selbstschonender Selbstbetrug. Augenfällig.
 
Solche Menschen begreifen nicht im Ansatz, dass und warum all das gerade nicht Zeichen, Ausdruck von Stärke, Rückgrat, Charakter, Souveränität, Autonomie, Integrität ist, sondern das Gegenteil:
Sie führen sich selbst vor, sie streben kompensatorisch nach Macht, Kontrolle, Unterwerfung - meist mittels physischer und/oder psychischer, auch struktureller Gewalt - weil sie ihre ureigenen Unzulänglichkeiten, Defizite, d.h. ihre Minderwertigkeits-, Abhängigkeits-, Unterlegenheitsgefühle und ihre Scham hierüber - gerade auch über ihre Verfehlungen, ihre Übeltaten, ihr verwerfliches Verhalten - nicht ertragen.
Um es überhaupt noch irgendwie in und mit sich selbst aushalten, mit sich selbst leben zu können, flüchten sie sich in den vordergründig behaglich-sanften, entlastenden Selbstbetrug, inklusive Selbstgerechtigkeit und Ignoranz, Arroganz und Täter-Opfer-Umkehr. - Zu Lasten, zum Schaden anderer: noch ein weiteres Mal, noch zusätzlich.

Solches leider weit verbreitete, Verhalten hat weltweit katastrophale Folgen: sowohl auf der sogenannt privaten wie gleichermaßen auf der politischen Ebene.
 
Das Problem:
Mit diesen Menschen,  die sich mit ihrem Verhalten demonstrativ selbst erniedrigen, selbst entwürdigen, ist Handreichung, Brückenbau (Versöhnen, Frieden schließen) nicht möglich - eben aufgrund ihres Selbstbetrugs, ihrer Selbstflucht.
 
Woran es solchen Menschen mangelt, ist Mitgefühl und Selbstwertgefühl (nicht zu verwechseln mit aufgeblasenem Ego, also pathologischem Narzissmus, wiederum zur Kompensation) sowie Reflexionsvermögen, Selbstkritik - Reife.
 
Keine Chance.
 
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17. November 2018
 
Brücken bauen ...
 
... statt Mauern.
 
Es gibt Menschen, mit denen ist Frieden, Versöhnung, Gemeinschaft nicht möglich. Sie klammern sich lieber mit aller Gewalt (!) an den Abgrund, den sie selbst geschaffen haben, sie führen lieber Kriege, als eigene Schwächen, Fehler, Bedürftigkeit, Verletzlichkeit, Minderwertigkeitsgefühle ... zuzugeben.
 
Und sie zerstören andere Menschen damit. Wissentlich. Absichtsvoll.
 
Diese Menschen kämpfen lebenslang nicht nur gewaltvoll gegen andere, sondern vor allem gegen sich selbst - gegen ihre Unfähigkeit, zu lieben.
 
Alle, die ihnen auf ihrem Weg begegnen oder sich gar widerständig in selbigen stellen, die sie dazu herausfordern, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen, sich ihren ureigenen, persönlichen Defiziten, Unzulänglichkeiten zu stellen (statt davor davonzulaufen und sich dem selbstschonenden Selbstbetrug, der Kompensation hinzugeben), reißen sie mit in ihren Abgrund.
Sie sehen in ihnen grundsätzlich den Feind - den es t o t a l zu vernichten gilt.
 
Und sie erkennen nicht, wie sie mit jedem Opfer auf ihrem Weg sich selbst zerstören.
Das ist tragisch. Es ist grausam. Für alle Beteiligten.
 
Es gibt keine Möglichkeit, sie zum Innehalten, zum Reflektieren, zur Selbsterkenntnis, zu Verhaltensänderung - zu einem anderen, einem angemessenen Menschen-, Welt- und Selbstbild zu bewegen.

Es gibt keine Brücke zu und keinen Weg mit ihnen.
Sie sind nicht zu erreichen, sie sind nicht in der Lage, zu reifen - zu geben, zu lieben.
 
Es gibt kein Mittel, keine Methode, das/die daran etwas zu ändern vermag - nicht einmal: Liebe.
 
Sie "leben" und sterben: im Kellerloch des Selbstbetrugs.
Sie klammern sich v e r z w e i f e l t an die Dunkelheit, die Hässlichkeit, an Morbidität, Destruktivität, Hass, Gewalt, Vernichtung, Tod - Nekrophilie.
Es ist immer das gleiche Spiel: Wenn du Menschen - um ihnen ihre Selbstgerechtigkeit, Selbstgefälligkeit, Selbstlügen vor Augen zu führen - an ihren je persönlich wundesten Punkten triffst, blocken sie ab, ergreifen sie die Flucht (meist, nachdem sie es zuvor mit "Angriff" erfolglos versucht haben).
 
Die wenigsten Menschen sind so erwachsen, reif, selbstreflektiert, stark und couragiert, dass sie zulassen können, sich über diese je eigenen, persönlichen wunden Punkte offen, ehrlich, wahrhaftig und selbstkritisch auseinderzusetzen - sie überhaupt zunächst einmal zuzugeben, sich und anderen einzugestehen. Sie verorten die "Schuld", die Ursachen allen Übels ;) grundsätzlich lieber in/im Anderen - um eben genau nicht auf sich selbst blicken zu müssen - und gar in Folge etwas verändern zu müssen an eigenen Einstellungen, Überzeugungen und vor allem Verhaltensweisen.
 
Das Karussell der (Selbst-) Lügen dreht sich daher unaufhörlich weiter: im Kreis.
 
"[...] Neurosen gelten als mißglückte Versuche des Menschen, mit den immer neuen Konflikten, vor die die Triebentwicklung das Kind angesichts elterlicher oder gesellschaftlicher Verbote stellt, fertigzuwerden. Ein mehr oder minder schwaches Ich fügt sieh dabei entweder den Verboten oder erkämpft sich ein gewisses Maß an Freiheit, oder es rettet sich in die Geheimsprache seiner Symptome, in denen es Lust und Gehorsam mühsam zu verbinden versucht.
 
Im günstigen Falle fühlt es dabei in der aktuellen Szene seine Konflikte und darf seine Gefühle auch ausdrücken: Wut, Haß, Trauer, Freude, Lust, Triumph oder den Schmerz der Niederlage. Wo nicht gefühlt oder gehandelt werden darf, kommt das reichhaltige Arsenal der Abwehrmechanismen zu Hilfe, und im Keller lobt fortan der Hexenkessel des Unzulässigen.

Wie aber, wenn eine Instanz, die das Fühlen erst möglich macht und die heim Konfliktmodell der klassischen Psychoanalyse im Ich fast selbstverständlich vorausgesetzt war als aktives Zentrum aller Abwehrvorgänge, schon im Anfangsstadium verkümmert oder austrocknet: das Selbst. Woraus es sich nährt, ist durch Heinz Kohuts Formulierung fast sprichwörtlich geworden: aus dem Glanz im Mutterauge.

Doch dieser Glanz kann vergiftet sein, und um die Art dieses Gifts kreist Alice Millers Buch. Vieles von dem, was sie schreibt, ist von Pionieren der Psychoanalyse der letzten zwei Jahrzehnte in manchmal schwieriger Begriffssprache bereits formuliert worden, und sie nennt selbst die Namen, hei denen sie Anhalt und Rückendeckung gefunden hat: Spitz, Mahler, Winnicott, Kohut und andere. [...]
 
Kein Mensch hat ein angeborenes Selbst, das aus eigener Kraft zur Entfaltung käme. (Goethes Entelechie der Persönlichkeit wäre eine Behauptung von etwas rein Hypothetischem, wäre es ihm nicht absolut geläufig gewesen, daß es dazu des mütterlichen und väterlichen Nährbodens bedarf.) Aber es gibt ein angeborenes Bedürfnis nach der Entwicklung eines Selbst. Nur: Wer es nähren will, muß guten Boden in sich haben. Er muß sich so verhalten können, als hätte schon das Neugeborene eine Persönlichkeit, deren selbständiges Wachstum Freude bereitet. Und er muß ein selbständiger, mit sich weitgehend einverstandener Mensch sein, wenn er die neu sich bildende Selbständigkeit bejahen und mit Freude fördern will. [...]
 
Viele Mütter brauchen gefügige Kinder, an denen das eigene innere Chaos gerade noch in Schach gehalten werden kann. Oder sie brauchen sie, um überhaupt ein Echo auf ihr sonst leeres Leben zu haben. Oder sie brauchen sie, um ihre geheime Selbstverachtung durch grandiose Zukunftsphantasien für das Kind zu heilen. Das Gefühlsleben des Kindes kippt dann um wie ein überdüngter See, der sich nicht mehr selbst regenerieren kann. [...]
 
Es wird kaum einen Analytiker geben, der nicht das eigene Verstanden-Werden oder Selbst sein-Dürfen an wichtigen Stellen entbehrt hätte. Die Gefahr ist nur, daß die Patienten dann für ihn etwas leisten müssen, was Mutter und Vater nur unzureichend geben könnten: totale Autmerksamkeit, Beachtung, Bewunderung und die endliche Respektierung der eigenen Meinung.

Folgerichtig handelt das erste Kapitel des Buches nicht nur vorn "Drama des begabten Kindes", sondern auch von der "narzißtischen Störung des Analytikers", der sicher sein kann, daß das, was er hinter der Couch zu sagen hat, eine Art von Aufmerksamkeit findet, die sonst nur Menschen in Starsituationen zuteil wird, selbst dort, wo er vom Patienten bekämpft wird.

Die "Ermordung des Gefühls" (mit der Folge von leere, Verzweiflung, Scham und Depression) ist Alice Millers Thema, das Drama der Wiederbelebung des Fühlens die therapeutische Kehrseite. Man spürt, daß sie den Schmerz der Selbstverlorenheit an eigener Seele durchlitten hat und bereit ist, mit jedem Patienten anzunehmen, daß "seine Gefühle eine Geschichte erzählen, die noch niemand kennt". Oft genug ist es eine Geschichte mit sieh wiederholenden Szenen. in denen gerade die Kreativität des Kindes, seine Begabungen, seine selbständige Sensibilität oder seine eigene Entdeckung der Welt das Gleichgewicht der Mutter oder der Familie bedrohten.
 
Die subtilen Strafen der Beschämung und der Demütigung dringen bei diesem unterirdisch geführten Kampf gegen die Selbstentfaltung des Kindes tiefer ein als grobe Verbote. Alles, was an Verachtung hat geschluckt werden müssen, muß in der Behandlung dann vorübergehend der Therapeut schlucken. Für viele Analytiker ist dies die am schwersten zu bestehende Herausforderung, und die Erkenntnisarbeit, warum ein Patient ihn verachtet, braucht ein längeres Stück Weg bis zu ihrer fruchtbaren Erhellung: Sie führt unweigerlich zu den Klippen des Selbstwertzweifels, die jeder in sich trägt. Schaut man sich aber um und spürt zunehmend deutlich, wie subtil Verachtung in vielen sozialen Bereichen ein wichtiges Mittel der Selbsterhaltung ist, dann wird der Vorstoß zu den Quellen von Verachtung und Selbstverachtung ein mutiges und dringliches Unterfangen.
 
Alice Millers Buch ist von einem Ton des "Hier stehe ich, ich kann nicht anders" getragen, der noch erkennen läßt, wie weit der Weg zur befreienden Erkenntnis war. [...]"
 
Quelle: Der Spiegel (29/1979) - "Suche nach dem verlorenen Selbst", (farbliche) Hervorhebungen habe ich vorgenommen.
 
Ein wichtiger, wirklich gehaltvoller Artikel, der trotz seines Alters in nichts an Aktualität, an Bedeutung verloren hat. Keine Ahnung, warum so relativ viele (Rechtschreib-) Fehler enthalten sind?
 
In die Tiefe gehen, authentisch und wahrhaftig sein - mit sich selbst: zuerst und vor allem. Auch bzw. gerade, wenn/wo es schmerzt.
Kaum etwas ist so schädlich (für das eigene Selbst wie für andere) so Entwicklung, Reifung hemmend wie der Selbstbetrug.
 
Und wer jetzt sagt "Na also, es sind eben doch die bösen Mütter schuld!", dem sei gesagt:
Die Mütter waren und sind oftmals aus (bekannten) Gründen schlicht überlastet und wurden selbst (als Kinder) meist auf ähnliche Weise geschädigt.
 
Was Mütter überlastet, ist bspw. das Folgende: existenzielle Not, Sorgen, Ängste, Druck, Zwang, der auf sie ausgeübt wird (auch Kontrolle gehört dazu), belastende Lebensumstände also, wozu auch (chronische) Erkankungen gehören (können) und ganz besonders auch: das Mit-allem-Alleingelassensein, keine regelmäßigen, erforderlichen Regenerationsphasen haben zu können, sozial isoliert zu sein ... .
 
Vielen Müttern von insbesondere kleinen Kindern (die also "noch" nicht fremdbetreut werden) geht es so, insbesondere alleinerziehenden und umso mehr dann, wenn sie also nicht in eine Gemeinschaft eingebunden, eingebettet sind, die die Mütter stärkt, "nährt", Sorge trägt, dass Mütter "gut Mutter sein" können - dazu gehören neben dem Vater noch weitere Bezugspersonen - für sowohl die Mütter als auch unbedingt die Kinder.
 
Und je länger eine Mutter in diesem Überforderungszustand bleibt (weil sie keine Entlastung, Unterstützung findet - weil dies stets immens mit gesellschaftlichen Verhältnissen zu tun hat, nicht nur heutzutage, aber eben auch, noch immer heute), umso schlechter wird es der Mutter physisch und psychsich und früher oder später auch - zwangsläufig - ihrem Kind gehen. Sie hat dann keine "Kapazitäten" mehr, zu geben, wenn ihre eigene Batterie aufgebraucht, leer ist.
Der oben verlinkte Beitrag im Deutschlandradio - "Kinder - Wie die Idee Gott in den Kopf kommt" - veranschaulicht Folgendes in aller Deutlichkeit:
 
Die "Idee Gott" wird Kindern aktiv in den Kopf und ins Gefühl gesetzt - Kinder haben sie nicht von sich aus, es bedarf der Indoktrination; und diese ist grundsätzlich (hinsichtlich jeglicher Ideologie) bekannterweise bei Kindern angewandt/eingesetzt am erfolgreichsten. Denn was einmal wirklich eingeprägt wurde, worauf das Kind geprägt wurde, das verliert es selbst mit intensiver Willensanstrengung zumeist lebenslang nicht mehr; von möglichen Phasen der Opposition und Distanzierung - meist in der Zeit der Pubertät und Adoleszenz - abgesehen; später kommt der religiös, d.h. auf religiösen Glauben geprägte Mensch darauf fast ausnahmslos doch immer zurück - er kann nicht anders, es ist ihm gewissermaßen eingraviert, einprogrammiert worden. Und das ist eben all jenen (Ideologen) durchaus bekannt, weshalb sie es sich folglich zunutze machen - in jeder Religion geht genau das, das Prägen, das Indoktrinieren von Kindern (mittels einer Ideologie), daher seit Jahrtausenden genau so vonstatten, wie wir wissen.
 
Im dradiokultur-Beitrag geht das aus folgender Passage abermals hervor:
 
"[...] Aber man kann religiös erzogene Menschen nach ihren frühesten Erinnerungen an Religion fragen. In meinem Religionsunterricht habe ich Schülerinnen und Schüler ihre Erinnerungen aufschreiben lassen. Das Ergebnis ist interessant: Viele erinnern sich an den Baum an Weihnachten, an den Gottesdienst mit der Oma, an Kerzen und Bilder, den Duft bestimmter Räume, an das Tischgebet, das Abendgebet, den Nikolaus, an Lieder und an die feierliche Stimmung, die von Liedern ausging. Kaum jemand erinnert sich an dogmatische Sätze. In das Gedächtnis kommen Räume, Figuren, Gestalten, Melodien, Atmosphärisches, Gegenstände und Dinge, die in der Vorstellung des Kindes etwas ganz Besonderes waren, mehr waren als nur ein Ding. (...)
 
Die Frage ist, warum gerade diese Personen und Dinge, diese Gesten und Rituale im Gedächtnis sind. Die Antwort: Weil sie für das Kind Bedeutung hatten [...]
 
So entsteht das Weltbild des Kindes. Und so werden Gegenstände zu Bedeutungsträgern. Sie lösen Gefühle aus, stellen Verbindung her, sie schaffen Geborgenheit, Nähe und Gemeinschaft, sie umhüllen ein Geheimnis, sie halten manchmal die Angst vor der Nacht in Schach, kurz: sie wirken. Der Theologe Paul Tillich hat genau diese Eigenschaften dem religiösen Symbol zugesprochen. Diese Fähigkeit zum "Symbolischen" in seiner physisch greifbaren Form ist also bereits im frühen Kindesalter da. Auf sie greifen Kinder zurück, wenn sie spielen und Dingen Bedeutung zusprechen. Nichts anderes geschieht in der Religion, wenn wir Religion als eine Weise verstehen, der Welt deutend zu begegnen.In den Jahren zwischen vier und sechs, also bis etwa zu Beginn der Grundschulzeit, verändert sich die kindliche Wahrnehmung und Deutung der Welt. Nachdem das Kind längst weiß, dass es Dinge gibt, die man nicht sehen kann und doch da sind, entwickelt es nun genauere Vorstellungen vom Unsichtbaren. Es entwickelt eine Vorstellung für mythisches Denken. [...]"
 
Man benutzt, instrumentalisiert, missbraucht also eben dieses kindlich-mythische Denken, diese Entwicklungsphase von Kindern, ihre Offenheit und Schutzlosigkeit (!), ihre natürliche Naivität und ihr Vertrauen, um genau an dieser sensiblen Stelle seine Ideologie einzupflanzen, einsickern zu lassen - konsequent, beharrlich.
 
"[...] Die weitere Entwicklung verläuft dann häufig so, dass aus dieser Gestalt über den Wolken eine Gestalt im Menschen wird. Der Gottesort verlagert sich in den Menschen. Gott ist im Herzen, und man spürt ihn im Innern. Von da aus ist es nur ein kleiner Schritt zur Psychologisierung der Gottesvorstellung, wie sie ab dem Jugendalter typisch wird. Hier wie dort haben wir Orte des Unsichtbaren. Ins Herz eines Menschen kann man nicht sehen und in die Seele des Menschen auch nicht. Die Konzepte des Unsichtbaren ändern sich, im Kern aber bleibt es dieselbe Aussage. [...]"
 
An dieser Stelle frage ich mich, weshalb man so etwas, eine solche "Idee" oder Vorstellung, überhaupt erst erschaffen muss - wozu?
Warum braucht es für manche Menschen einen "Gott" - warum können sie nicht einfach Güte ... je selbst "im Herzen tragen", aktiv l e b e n?
 
Menschen sind anlagebedingt empathisch, mitfühlend. Und Empathie bzw. Mitgefühl ist der Urgrund jeglicher, d.h. intrinsischer Moral.
Empathie und insbesondere Mitgefühl kann allerdings im Kindesalter gepflegt, befördert, genährt werden (durch vor allem empathischen, bedürfnisorientierten, liebevollen, feinfühligen Umgang mit dem Kind) oder aber beschränkt, beschnitten, abgeklemmt.
 
Weshalb das, das im Menschen ohnehin bereits natürlicherweise angelegt ist und zu intrinsischer Moral (d.h. entsprechendem, mitfühlenden, prosozialen, kooperativen Verhalten) führt, nun in ein "Außenwesen", eine "äußere Macht" oder Entität verlegen? Wozu? Um Menschen besser "führen", lenken, manipulieren, instrumentalisieren zu können.
Keine Frage. Es geht um Macht, Unterwerfung, Ausbeutung.
 
"[...] Bisher ist klar geworden: Gottesvorstellungen durchlaufen im Kindesalter eine mehrstufige Entwicklung. Sie setzt an bei spontan-intuitivem Denken, geht über zu einer mythologischen, später zu einer psychologisierenden Gottesvorstellung. Der Religionspädagoge Fritz Oser hat den Prozess religiöser Entwicklung vielfach untersucht, und zwar unter der Frage, wie Menschen Gott und das Geschehen in der Welt miteinander in Verbindung bringen. Herausgekommen ist ein Stufenmodell religiöser Entwicklung. [3]
 
"Ein Kind versteht Gott zunächst als eine Macht, die unbeeinflussbar alles tut und wirkt - wie ein 'Deus ex machina", ein 'Gott aus einer Maschine'. Demnach geschehen die Dinge eben oder sie geschehen nicht, und zwar allein weil Gott es so will. Auf einer zweiten Stufe - im Grundschulalter - erleben Kinder Gott als ein Gegenüber, mit dem man wechselseitig Handel treiben kann, ein Gottesverhältnis auf Gegenseitigkeit: Bin ich gut und lieb zu Gott, ist Gott auch gut und lieb zu mir. Dieses Konzept wird in dem Maße erschüttert, wie das Selbstbewusstsein und das Wissen um die eigenen Möglichkeiten wachsen. Hier beginnt die Stufe 3. Das Kind erlebt sich zusehends als Individuum und sagt sich: Es sind die Menschen, die die Dinge in der Welt machen und bewirken, und nicht Gott. Dies ist eine einschneidende Trennungserfahrung: Gott ist zwar nicht einfach weg, aber man kann sich nicht - oder nicht mehr - vorstellen, dass er in das Weltgeschehen eingreift. Gott tut, und der Mensch tut. Jeder für sich. Gott wird nicht geleugnet, aber welchen Einfluss er auf das Leben der Menschen und auf die Welt hat, das kann man sich nicht mehr so richtig vorstellen. Die alte Mythologie funktioniert nicht mehr. Wer vorher mühelos glauben konnte, gerät nun in eine Glaubenskrise. Diese Krisenerfahrung empfinden viele als das Ende ihrer Kindheit."
 
Glaubenswissen muss an Lebenserfahrungen anknüpfen können
In Osers Theorie gilt die "Stufe 3" als kritischer Punkt in der religiösen Entwicklung. Behauptet diese Stufe nicht im Grunde eine natürliche Weichenstellung hin zum Atheismus? Kritiker wenden hier gerne ein, das Stufenmodell sei dem Phänomen des Glaubens nicht angemessen. Beim Glauben gehe es nicht um Psychologie, sondern um Inhalte, um Bekenntnis und Tradition. Ich halte diese Einwände für nicht stichhaltig. Die Erfahrungen aus Religionsunterricht und Seelsorge zeigen: Glauben ist nicht die allgemeine Übernahme vorgegebener Wahrheiten. Glaubenswissen muss an bestimmte Lebenserfahrungen anknüpfen können. Und genau dahin führen auch die Ergebnisse des Stufenmodells. Auf der vierten Stufe nämlich, in der Regel nicht vor dem Erwachsenenalter, komme es - so stellt Oser fest - zu einer neuen dialogischen Beziehung zwischen Gott und Mensch: Gott wirke nun durch das Tun des Menschen. Der Mensch handele, weil es für ihn einen letztgültigen Grund gebe. Die Krise führt zur Entdeckung einer neuen Selbstständigkeit. Das Ergebnis ist ein Leben aus einem selbstbestimmten Glauben. [...]"
 
Alles sehr richtig - bis zum Punkt am Ende:
 
Die vierte Stufe - der erwachsene, selbständig denkende Mensch erkennt. Und: zweifelt. An der Existenz "Gottes" wie auch an diversen Glaubensinhalten, an Überlieferungen, an Dogmen ... . Zurecht. Wie sollte er auch nicht? Als eben denkender, denkfähiger, mit Verstand, d.h. Erkenntnis- und Urteilsfähigkeit begabter, belegter und als mitfühlender Mensch.
 
Und dann beginnt folglich der bewusste Selbstbetrug - der absichtsvolle. Der sogenannte "Sprung" in den Glauben: mit dem der glauben wollende (bzw. müssende, siehe die in der Kindheit erlebte, erlittene Indoktrination) Mensch sich über seine eigentlich nicht ignorierbare Erkenntnis, sein schmerzvolles Mitfühlen und seine drängenden, nagenden Zweifel selbstschonend, egoman hinwegzuretten versucht.
 
Man kann sich also "nicht mehr so richtig vorstellen, welchen Einfluss Gott auf das Leben der Menschen und auf die Welt hat" - so heißt es im Beitrag, s.o. - "die alte Mythologie funktioniert nicht mehr". Aha?!
 
Und diese "Krisenerfahrung" werde als "das Ende der Kindheit" empfunden. Als viel mehr: das Ende des Kindseins. Ach?!
Das bedeutet im Umkehrschluss allerdings nichts anderes, als das Festhaltenwollen an eben der Kindheit, an kindlich-naiven Vorstellungen, wenn: man diese Krise nicht überschreitet, bewältigt, sondern einfach an den Punkt vor ihr Eintreten zurückkehrt, wenn man sich also über seinen Verstand hinwegsetzt und Zuflucht beim kindlichen Gefühl von Geborgensein sucht, sich in diese Phase zurückversetzt und dort verharren möchte - mittels des religiösen Glaubens, an den man dieses Geborgenheits-, Sicherheitsgefühl geknüpft wähnt, eben weil es einem exakt so (damals, in Kindertagen) ja - aus eben diesem Grunde, zu disesem Zwecke - vermittelt, eingepflanzt wurde.
Und das Gift entfaltet folglich und augenfällig erst jetzt, in fortgeschrittenem Alter, mit vorangeschrittener Entfaltung des Verstandes, seine Wirkung:
 
Der Verstand wird nicht für voll genommen, wird angezweifelt, wird übergangen, herabgesetzt, wird unter den Glauben, das Glaubenwollen geknechtet. Das ist das Resultat der erfolgreichen Indoktrination des Kindes. Die Saat ist aufgegangen.

Und das gelingt vor allem auch deshalb so gut, weil der Glaube außerdem vermeintlich Halt und Trost gibt, das jedoch nur auf Basis eben des Glaubens, des Selbstbetrugs. Man kann ein gutes Stück Verantwortung, also auch Last, Schwere, auf diese Weise abgeben und überdies Zufälliges, Absurdes, Unerklärliches, Zweifel, Ungewisses als (vermeintlich, vorgeblich) "sinnhaft" interpretieren.
 
Und wenn es im Beitrag heißt, "Gott wirke durch das Tun der Menschen" - so frage ich mich: Wer oder was "wirkt" da? Und wo im Menschen - auf welche Weise?
Mit anderen Worten: Warum soll das "Gott" sein, warum ist es nicht einfach der Mensch selbst: sein ganz und gar eigenes, persönliches Denken, Fühlen, Wollen? Genau das ist es.
 
Schließlich ist im Beitrag zu lesen "Der Mensch handele, weil es für ihn einen letztgültigen Grund gebe.". - Welchen "letztgültigen Grund"? Den von ihm, dem Menschen selbst konstruierten, phantasierten: die vermeintliche Existenz (eines) "Gottes" also?
 
Und warum ist dieser "Gott" ein männlicher, ein männlich attributierter (Vater, Sohn, Heiliger Geist), warum ist er doch immer wieder bzw. nach wie vor so anthropomorph und maskulin, androzentrisch attributiert? Wir wissen, siehe Wissenschaften, dass der Monotheismus zeitlich, historisch mit dem Beginn des Patriarchats zusammenfällt.
 
Und wozu braucht "der" Mensch einen solchen "letzten Grund"? Das bedeutet doch nichts anderes, als dass der religiös gläubige Mensch eine Art Vater, "höhere Macht" oder wie immer man es nennen will braucht, jedenfalls will, wünscht - um existieren zu dürfen und zu können.
Haben wir hier nicht wieder das kleine Kind von einst? Das sich also gerade nicht mental selbständig, unabhängig gemacht, selbst entwickelt, entfaltet hat: zu geistiger Eigentsändigkeit und Freiheit, Autonomie.
Es braucht dieses "erwachsen", jedenfalls groß gewordene Kind noch immer einen Beschützer, einen Ansager, Führer, ein Wesen, das vermeintlich über es wacht, das alles "lenkt", das schlauer und "besser", das "mächtiger" ist als es selbst. Es ist ein solcher Mensch folglich geistig bzw. emotional Kind geblieben, in diesem Bereich seiner Persönlichkeitsentwicklung, seines Selbst. Deshalb der gewünschte, gewollte Paternalismus.
 
Es genügt solchen Menschen nicht, all das, das um sie ist, als das zu nehmen, das es ist, das sie so - als Mensch - wahrnehmen, beobachten, erleben, bestaunen, sich daran erfreuen oder aber über manches empört, auch erschüttert, wütend und traurig und auch verzweifelt sein können. - Sie brauchen das Gefühl, es habe alles (s)eine Orndnung, es sei alles letztlich "gut und richtig" so, wie es ist, weil es ein vermeintlich metaphysisches "Wesen, eine Macht, ein Prinzip" gibt, die/das "es besser weiß als sie selbst", die alles lenkt und richtet.
Diese Menschen möchten Verantwortung abgeben, zumindest einen Teil ihrer persönlichen, von ihnen selbst zu tragenden Verantwortung. Sie ertragen den Zufall, das Ungewisse, den Zweifel, das Absurde und den Schmerz nicht, den Gedanken, dass alles, folglich auch der Mensch und somit gerade auch sie selbst, ihr persönliches (Da-) Sein, ihre Existenz, ihr gesamtes Leben, Tun, Mühen, Ertragen, kontingent ist. Sie wollen das nicht wahrhaben (müssen).
 
Und sie möchten sich beschützt und geborgen fühlen: wie als Kind, wie ein Kind.
Nur sind sie eben keine Kinder mehr. Sie verweigern den Schritt zur Reife, zum wirklichen Erwachsenwerden, zur geistigen und emotionalen Eigenständigkeit und Verantwortung.
Sie schaffen sich einen ihr Selbst bzw. ihr Ich/Ego - schonenden Raum: der Glaube als Selbstbetrug, als Selbstschonung, als Zufluchtsstätte vor sich selbst, vor dem eigenen Ich, Charakter, Persönlichkeit, dem Menschsein, der Conditio humana, vor der je eigenen, menschlichen Freiheit und damit stets einhergehend: vor der Verantwortung.
Somit auch vor dem Schmerz.
 
Und besonders vor der Erkenntnis des Alleinseins. Denn letztendlich sind wir alle genau das: allein. In uns, mit uns selbst. In tatsächlich allem, das wir erleben, denken, fühlen. Nicht zuletzt, aber ganz besonders im Leid(en) und im Sterben.
 
Davor fürchtet sich der gläubige Mensch; und um seine Furcht (für) sich selbst erträglicher zu machen, konstruiert er einen "Gott" - "den letzten Grund", den "Sinn- und Bedeutung-Geber". Ein vermeintlich übergeordnetes Wesen oder eine solche Instanz. Damit er sich vorstellen, vormachen kann, sein diesseitiges Leben sei mit seinem Tod nicht "in alle Ewigkeit" zu Ende und alles sei letztlich doch nicht vergeblich gewesen (siehe Sisyphos).
 
Letztendlich sucht er Trost. Der Glaube bietet Halt und Trost. Man kann sich damit selbst, d.h. für sich selbst, Erleichterung verschaffen. Zu einem nicht geringen Preis:
dem Selbstbetrug und die Selbstverknechtung. Nichts weniger als das.
 
Denn Spiritualität ist nicht das Gleiche wie (religiöser) Glaube und/oder Aberglaube und/oder Esoterik.
 
Wer seine ebenfalls "angelegte" Spiritualität leben, ihr Raum geben möchte, benötigt hierfür keinen religiösen Glauben, aber auch keinen anderen, keinen Aberglauben, keine Esoterik, keinen Mystizismus. Keine: Religion, keine Ideologie, d.h. keine Ge- und Verbote, Dogmen, (Handlungs-, Verhaltens-) Anweisungen. Diese dienen nicht zur moralischen Orientierung - wie so aber behauptet wird, wie sie so propagiert werden - sondern dazu, Menschen gefügig, lenkbar, manipulierbar, instrumentalisierbar, ausbeutbar, knechtbar zu machen.
 
Zur moralischen Orientierung haben wir auf basaler, emotionaler Ebene das allen Menschen, wie auch einigen anderen Primaten angeborene Mitgefühl (siehe, wie oben bereits erwähnt und in den verschiedenen Links erläutert) und auf mentaler, rationaler, intellektueller Ebene die Ethik - welche ein Teilgebiet akademischer Philosophie ist.
 
Und was das "Wort" anbelangt, das angeblich (von "Gott"?) "jedem von uns zugesprochen" wird - nun, ich habe nichts gegen Poesie und auch romantisch kann man bisweilen gerne sein, aber realistisch betrachtet ist das dem Bereich der Phantasie zuzuordnen.
In dieser darf auch ein "Gott" (was oder wie immer das sein soll) einen Platz, eine Existenzberechtigung haben - es sollte einem dies jedoch stets bewusst sein und bleiben: dass "Gott" der eigenen Phantasie, dem eigenen wie zum Teil kollektiven, kindlichen bloßen Wünschen entspringt - aus oben genannten Gründen.
 
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"[...] Die Beispiele zeigen: „Wir täuschen uns bei Dingen, die wirklich wichtig für uns sind", wie die Philosophin Kathi Beier von der Universität Wien feststellt.
 
Ob der Selbstbetrug wirklich nützt, ist umstritten. Viele Psychologen betrachten ihn als eine Art Immunsystem der Seele: Er soll vor den täglichen Gefahren schützen, die unsere Psyche bedrohen. Somit, propagieren jene Psychologen, trägt Selbsttäuschung zu unserem Wohlbefinden bei. Als Beleg für ihre These verweisen sie darauf, dass depressive Menschen ehrlicher zu sich selbst seien. Im Umkehrschluss lügen sich zufriedene oder glückliche Leute öfters in die Tasche: Sie sehen weg, lenken sich ab, prüfen nicht nach. „Sie deuten die Fakten so um, dass sie ihrem Selbstbild in den Kram passen", erklärt Albert Newen. [...]
 
Das Maß an Selbsttäuschung sei meist nicht kontrollierbar, sodass sie „dem Einzelnen häufig schadet", findet er. Dass sie Menschen glücklich mache, hält er durch Studien in keiner Weise für belegt.
Van Leeuwen verweist auf ein Experiment des renommierten US-Psychologen Roy Baumeister. Demnach werden Menschen, die stark zur Selbsttäuschung neigen, vielfach als innerlich unruhig und unentspannt wahrgenommen. Die Selbsttäuschung verführe Menschen dazu, unglücklich zu bleiben, statt sich mit der Ursache ihres Missbefindens auseinanderzusetzen – und es möglichst aus der Welt zu schaffen. [...]
 
Trivers' These lautet: „Wir belügen uns selbst, um unsere Mitmenschen besser belügen zu können." Denn wer in wichtigen Dingen lügt, ohne erwischt zu werden, „hat Vorteile, die sich auch evolutionär widerspiegeln", meint der Biologe – bemessen an der Zahl der Nachkommen. [...]
 
Brutstätte der Selbsttäuschung ist laut Trivers das Unbewusste – was seiner Ansicht nach auch erklärt, warum sie überhaupt funktioniert. Das klingt nach Sigmund Freud, dem Übervater der Psychoanalyse, ist aber vor allem eine Frucht der modernen Neurowissenschaft. Nach deren Erkenntnissen hat man bewusste wie unbewusste Erinnerungen, Meinungen, Gedanken und Haltungen, deren Inhalte keineswegs immer übereinstimmen – auch wenn es um ein und dasselbe Thema geht, beispielsweise Rassismus. [...]"
 
Quelle: Bild der Wissenschaft - "Lug und Selbstbetrug", farbliche Hervorhebungen habe ich vorgenommen.
 

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