Pankaj Mishra im oben verlinkten Video ("Großbritannien und seine Wutbürger - 2017") über:
den Brexit, Tradition, Rechtspopulismus und Rechtsextremismus, Kapitalismus, Neoliberalismus, Privatisierung, Globalisierung, Sozialstaatsabbau, Eliten, Konservatismus, Mythen, Identität, Kolonialismus, Imperialismus, Macht, provinzielles, engstirniges Denken, repräsentative Demokratie, Nationalismus, Rassismus - über Grenfell Tower (Brand im Juni 2017), "sozialen Wohnungsbau", Gentrifizierung, systematische, sukzessive, vorsätzliche Vertreibung, Vernichtung materiell armer Menschen durch Regierungspolitik.
Das lässt sich ähnlich, in großen Teilen, auch auf andere Staaten übertragen. ... Und niemand wundert sich (mehr) über die Wut, Empörung, Fassungslosigkeit, Angst und Resignation der Betroffenen, der Beschädigten, der Opfer. Reaktive Aggression.
Die Eliten, Wohlhabenden, Vermögenden, Mächtigen sind, damals wie heute, angewidert von Armut - von materiell armen Menschen. Sie haben kein Mitgefühl und kein Verantwortungsbewusstsein. Sie sind ignorant, arrogant, selbstgerecht, selbstgefällig - es sind Täter von Gewalt, Zersetzung, Zerstörung.
Sie sind verantwortlich für sehr viel Leid und für daraus resultierende Gegengewalt. Sie verursachen all das. Wissentlich, absichtsvoll.
"[...] Eine zentrale Rolle spielen in ihrer Analyse "entfremdete junge Männer". Wieso?
Pankaj Mishra: Weil sie eine entscheidende demografische Gruppe der modernen Welt sind, heute mehr denn je. Viele Staaten durchlaufen gerade Prozesse der Modernisierung, ob Südafrika, Indien oder Länder im Nahen Osten. Die jungen Männer dort sind teils ausgebildet, um in den Städten in Fabriken oder ähnlichem zu arbeiten. Allerdings verfügen diese Gesellschaften meist weder über das wirtschaftliche Wachstum noch über die politischen Institutionen, um alle diese jungen Männer zu integrieren. Dadurch entsteht ein riesiger Frust, weil massenhaft Ambitionen ins Leere laufen. Es sind genau solche jungen Männer, die traditionell empfänglich sind für nationalistische Bewegungen, militante Anarchisten und Demagogen, die zum Kampf aufrufen.
ZEIT ONLINE: Es handelt sich also um kein neues Phänomen?
Mishra: Nein. Wir haben uns bloß daran gewöhnt, zornige junge Männer, die gewalttätig werden, primär als Phänomen zu deuten, das etwas mit Religion, speziell dem Islam, zu tun hätte. Das ist intellektuell und politisch kontraproduktiv. Man ignoriert damit die lange Geschichte des Terrorismus, in der Religion nie eine entscheidende Rolle gespielt hat. Vielmehr hat das mit jungen Männern in ausweglosen Verhältnissen zu tun, die versuchen, Gefühle von Wut und Machtlosigkeit mit spektakulären Gewaltakten zu überwinden. Dieses Muster kann man bereits im 19. Jahrhundert beobachten: in Russland, Spanien, Italien und den Vereinigten Staaten. Menschen aller Religionen und Nationalitäten haben Terrorismus als Mittel benutzt, um politische Ziele zu erreichen oder um ihre Verachtung für die Gesellschaft, in der sie leben, zu zeigen. Dieser Wunsch nach Zerstörung kommt nicht von außerhalb, sondern ist Teil moderner Gesellschaften.
ZEIT ONLINE: Sind irrationale Gewalt und Gefühle der Verachtung demnach eine unvermeidliche Begleiterscheinung der Modernisierung präindustrieller Gesellschaften?
Mishra: Wir haben heute vergessen, dass dieser Modernisierungsprozess immer schon extrem gewalttätig war. Nicht bloß im Hinblick auf Kriege, sondern auch strukturell betrachtet: Menschen erlebten damals in Europa einen Prozess der Entwurzelung und Entfremdung von ihren Familien, ihren Gemeinden, von den Dingen, die Individuen psychologischen Halt geben. Heute passiert eben das zum Beispiel in Indien, wo unzählige Leute die Erfahrung machen, in extrem jungem Alter ihr Zuhause zu verlassen, um zum Arbeiten in die Städte zu gehen. Dabei bleibt keine Zeit für charakterliche Entwicklung in einem stabilen Umfeld. Solche Menschen werden in der Folge oft anfällig für das, was Theodor W. Adorno und Max Horkheimer als "autoritäre Persönlichkeit" bezeichnen: Leute wie Donald Trump oder der indische Premierminister Narendra Modi, die eine toxische Sprache verwenden und sämtliche Konventionen zerstören. Solche Figuren, die sich als starke Männer inszenieren, können für psychologisch labile Menschen eine Quelle der Kompensation sein.
ZEIT ONLINE: Sie argumentieren, dass wir auch deshalb Probleme haben, die gegenwärtigen Krisen zu verstehen, weil wir zu stark der Vorstellung vom Menschen als rational handelndem Wesen anhängen.
Mishra: In der Tat. Diese Idee vom vernunftbestimmten Menschen wurde von den Philosophen der Aufklärung im späten 18. Jahrhundert zum ersten Mal systematisch artikuliert. Im 19. Jahrhundert haben viele Denker diese Idee in der Folge stark kritisiert. Dostojewski etwa zeigte, dass Menschen mitnichten so einfach definiert werden können, sondern innerlich gespaltene Wesen voller widersprüchlicher Bedürfnisse und Motivationen sind. Friedrich Nietzsche und später Sigmund Freud haben ebenfalls mit Nachdruck darauf verwiesen. In den letzten 30 Jahren haben wir den Kontakt zu diesem intellektuellen Erbe fast völlig verloren. Die Folgen dieses Vergessens sind katastrophal. Speziell nach dem Fall der Berliner Mauer 1989 hat sich eine extrem einfältige, ökonomisch geprägte Vorstellung des Menschen etabliert, derzufolge wir allein unserem wirtschaftlichen Eigeninteresse folgen und dadurch einen Beitrag zum Gemeinwesen leisten. [...]
Mishra: Rousseau und Voltaire waren sich einig darin, dass das aristokratische Gesellschaftsmodell des 18. Jahrhunderts nicht länger tragfähig war. Die Ideen, die zu dieser Zeit unter anderem von Voltaire als Alternative formuliert wurden als eine kommerzielle Gesellschaft, in der Individuen in Konkurrenz zueinander stehen, betrachtete Rousseau sehr kritisch. Er sah, dass ein solches Modell einen permanenten Konflikt zur Folge haben würde, weil das Ideal individueller Freiheit dabei mit einer Konkurrenzsituation zwischen Individuen einhergeht, die viele Menschen zutiefst unglücklich zurücklässt. Mit diesem Paradox leben wir noch heute. In den vergangenen Jahrzehnten hat, so könnte man sagen, Voltaires Idee dominiert: die einer kosmopolitischen Welt, die von Handel und unternehmerischen Individuen zusammengehalten wird. Dagegen regt sich heute überall Widerstand. Die Wellen nationalistischer Bewegungen in verschiedenen Regionen der Welt sind auch eine Reaktion auf dieses Modell.
ZEIT ONLINE: Der Konflikt zwischen Voltaire und Rousseau, den sie beschreiben, erinnert an die Sprache, die Populisten heute immer bemühen: Auf der einen Seite die kleine Elite, auf der anderen Seite die breite Masse. Ist es nicht viel zu reduktiv, anhand dieser Kategorien über gesellschaftliche Probleme nachzudenken?
Mishra: Sowohl Voltaires als auch Rousseaus Erbe ist problematisch, deshalb befinden wir uns heute in einer Sackgasse. Voltaires kosmopolitische Vorstellung der Welt wird von vielen Menschen als unterdrückend wahrgenommen. Nicht nur in Europa selbst, sondern auch in anderen Teilen der Welt. Speziell wenn diese Vorstellung mit imperialistischen Ambitionen einhergeht. Voltaire selbst hatte kein Problem mit Imperialismus, solange dieser im Dienste seiner Ideen stand. Er arrangierte sich damals mit verschiedenen Despoten in Europa, etwa mit der russischen Zarin Katharina der Großen.
ZEIT ONLINE: Sie beschreiben in diesem Zusammenhang, dass die Deutschen die ersten waren, die im frühen 19. Jahrhundert jene imperialistische Kehrseite der Aufklärung in Form der Eroberung durch Napoleon zu spüren bekamen.
Mishra: Genau. Und in der Reaktion der Deutschen kann man ein Muster beobachten, das bis heute die Verhaltensweise derartig gekränkter Nationen kennzeichnet: das trotzige, demonstrative Ausstellen nationaler Identität. Oft reagieren solche Gesellschaften damit, dass sie sagen: Unsere Eroberer mögen mehr Macht, Geld und Ressourcen haben, aber wir sind moralisch und kulturell überlegen. Diese rousseausche Reaktion führt allerdings genauso wenig zu einer freien Gesellschaft, in der sich Individuen entfalten können. Das ist die Pattsituation der Aufklärung, die wir überwinden müssen. [...]
ZEIT ONLINE: Heute sehen wir die Modernisierung von Staaten in der sogenannten Dritten Welt als Lösung für Probleme wie etwa Terrorismus. Sie sagen, diese Probleme seien die Folge eben jenes Modernisierungsprozesses.
Mishra: Die Geschichte Europas zeigt die zutiefst traumatischen Folgen, die Prozesse der Modernisierung nach sich ziehen. Diese Entwicklung kann nicht ohne Weiteres als Vorbild zur Nachahmung angeboten werden, es sei denn wir wollen, dass der Rest der Welt die katastrophalen Fehler der Europäer aus dem 19. und 20. Jahrhundert wiederholt. Speziell die USA und Großbritannien haben sich nach dem Zweiten Weltkrieg ideologischen Illusionen hingegeben. Man dachte, da man die Nazis und später den Kommunismus besiegt hätte, müssten alle anderen einfach das eigene Gesellschaftsmodell adoptieren. Deutschland, Frankreich und Italien haben nach dem Zweiten Weltkrieg keine alternativen Diskurse produziert, welche die speziellen Erfahrungen dieser Länder ausreichend berücksichtigen. Man hat sich zu sehr mit der anglo-amerikanischen Gewinnermentalität gemein gemacht.
ZEIT ONLINE: Wir müssen die Geschichte aus der Sicht der Verlierer betrachten?
Mishra: Absolut. Nur weil Deutschland nach 1945 zur Kategorie der Gewinner gehörte, heißt das nicht, dass es nicht zuvor in der Kategorie der Verlierer war. Diese Erfahrung müssen wir uns anschauen. Nach 1945 etablierte sich die Vorstellung, alle seien Gewinner oder könnten Gewinner sein. Das ist eine unrealistische Erwartung.
ZEIT ONLINE: Das stellt uns vor ein großes Problem.
Mishra: Ich beurteile es folgendermaßen: Wir sehen heute eine globale Krise von Liberalismus und Demokratie. Die beiden Länder, die nicht erobert und besetzt wurden, die USA und Großbritannien, haben eine ganze Reihe zutiefst idealisierter Vorstellungen über ihren eigenen Fortschritt generiert. Darin kommen viele Faktoren, die den wirtschaftlichen und militärischen Erfolg dieser Länder mit möglich gemacht haben, nicht vor: Imperialismus, Völkermord, Sklaverei.
ZEIT ONLINE: Ist Fortschritt oftmals bloß eine Begleiterscheinung von Kriegen und Krisen?
Mishra: Denken Sie etwa an die Rechte von Frauen. Diese sind zum Teil Errungenschaften von Frauenrechtsbewegungen. Die größten Fortschritte in diesem Bereich wurden aber im Zuge der beiden Weltkriege gemacht, weil Frauen als Arbeitskraft gebraucht wurden, während die Männer kämpften. Solch unangenehme Paradoxien machen wir uns zu wenig bewusst und hängen stattdessen viel zu sehr linearen Vorstellungen von Fortschritt an, die eine komplette Fantasie sind. Dass wir denken, dieser Fortschritt könne anderswo ohne Probleme wiederholt werden, zeigt bloß, dass wir kein ausreichendes Bewusstsein für die spezifischen Gegebenheiten haben, die diese Entwicklung in Nordamerika und Europa ermöglicht haben. Mit dieser Erwartung stellt man Entwicklungsländer vor eine Aufgabe, die unmöglich zu erfüllen ist. Es ist kein Wunder, dass diese Staaten, etwa im Nahen Osten, große Probleme dabei haben, eben jene Entwicklung zu wiederholen und oftmals als failed states enden."
Quelle: zeit.de - "Der Wunsch nach Zerstörung ist Teil moderner Gesellschaften"
Farbliche Hervorhebungen habe ich vorgenommen.
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