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Sabeth schreibt

Poesie Melancholie Philosophie Feminismus Anarchismus

Hass - Ich hasse, also bin ich

 
update 28. Mai 2022
 
Da immer wieder, nach wie vor, so häufig von Hass die Rede ist, sei auf gebotene Differenzierung hingewiesen.
 
Zu unterscheiden ist, ob es sich um starke Abneigung, Widerwillen, Verurteilung, auch Verachtung des Verhaltens, Vorgehens, Agierens, der Taten - auch des Unterlassens bestimmten Verhaltens - anderen, auch bestimmten Menschen gegenüber handelt, das als sozial, politisch, ethisch unangemessen, als antisozial, belastend, benachteiligend, ausgrenzend, ausbeutend, beschädigend wahrgenommen, auch ggf. persönlich so erlebt, erfahren, erlitten wird, ob es sich also um Wut, Empörung, natürliche reaktive Aggression als Folge von erlittenem Schmerz, überschrittener Schmerzgrenze (siehe dazu Joachim Bauer, sein gleichnamiges Buch) handelt
 
oder
 
um Neid, Missgunst, vorsätzliche Herabsetzung, Diskreditierung, Entwertung (bestimmter) anderer Menschen, siehe gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, aufgrund je persönlicher Frustration infolge eigener sozialer, emotionaler, intellektueller Defizite, Unzulänglichkeiten, Unreife und dem Versuch, diese durch Abwehr, Trotz, Verweigerung, Verdrängung, Umdeutung, Leugnung, Unterstellungen, Projektionen etc. so zu "kompensieren", dass das jeweilige, sich in dieser Weise verhaltende Individuum nicht in seinem Selbstbild, seiner Selbstgewissheit, seinem Kohärenz- und Integritätsgefühl infragegestellt, gar erschüttert wird, damit es sich also nicht mit sich selbst - selbstkritisch, selbstreflexiv, häufig mühsam, schmerzvoll - auseinandersetzen und letztlich sein eigenes unangemessenes Verhalten nicht ändern muss, sich stattdessen fortgesetzt dem vordergründig selbstschonenden, bequemen Selbstbetrug hingeben kann.   
 
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Hass - "Ich hasse, also bin ich" - "Wer nicht leiden will, muss hassen"
 
Es ist so viel einfacher, bequemer, wütend zu sein, sich in Wut, Groll, Projektion und Täter-Opfer-Umkehr, Opferrolle (nicht zu verwechseln mit Opferstatus) zu verkriechen, sich der Verbitterung hinzugeben, als die dahinter-, darunterliegenden G e f ü h l e - Schmerz, Traurigkeit, Einsamkeit, Sehnsucht, Bedürftigkeit, Verletzlichkeit, somit auch Hilf-, Haltlosigkeit, Scham - zuzulassen, sie zu empfinden, also zu e r l e i d e n und durch verändertes, angemessenes Sozialverhalten, auf Basis von Reflexion, Selbsterkenntnis, Einsicht und Mitgefühl, zu bewältigen.

Letzteres, das Bewältigen, ist so viel unbequemer, mühevoller, anstrengender und eben zumeist auch schmerzhafter - Stichworte Scham, Schuld, Selbstbild, Selbstverständnis, Selbstachtung, Identität - deshalb wird versucht, diesen Reifungs- und Heilungsprozess zu umgehen. Er wird auf diese Weise, mittels der Verbitterung, des Selbstbetrugs, aktiv (wenn auch häufig unbewusst) verhindert, unmöglich gemacht.

Siehe hierzu auch die blog-Einträge zu Selbstbetrug und Verbitterung.
 
Antimuslimismus, Antisemitismus, Misogynie, Homophobie, Rassismus speisen sich aus derselben Quelle: gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit auf Basis von Hass, Selbsthass - Kompensation - je ureigener "moralischer", d.h. sozialer, psychisch-emotionaler und intellektueller Defizite, Unzulänglichkeiten: Neid, Selbstsucht, Geiz, Gier, Narzissmus, Minderwertigkeits-, Unterlegenheitsgefühle, Bedürftigkeit, Verletzlichkeit und die Scham hierüber, die nicht ertragen wird.
 
Die eigenen Schwächen werden daher auf andere projiziert, ihnen angehängt, um diese Anderen a l s Andere, Fremde, vermeintlich Böse, Schlechte, Minderwertige, Schwache abwerten, entmenschlichen, um sie hassen zu können - um seinen selbstschonenden Selbstbetrug aufrechterhalten zu können.
 
Das ist Unreife, der Mangel an Mitgefühl und (Selbst-) Reflexionsfähigkeit. Es ist die Unfähigkeit, zu lieben, sich mit anderen Menschen zu verbinden, seine existenzielle Einsamkeit zu überwinden.
 
Daher die Misanthropie und der "Nihilismus", daher die F l u c h t in Hedonismus, Drogen/Sucht, Eskapismus, Metaphysik (Religion, Esoterik, Mystik, Aberglaube).
 
Daher die Selbstverknechtung, die Unterwerfung unter einen "Führer", die Anhängerschaft an eine - gewalttätige, hassende - Gruppe, das Gehorsamseinwollen und das Gehorsameinfordern: um sich vermeintlich zugehörig, um sich vermeintlich stark, um sich w e r t v o l l fühlen zu können - sei es auch noch so destruktiv und selbstzerstörerisch. Das nennt man Patriarchat. Gleich, ob bei Islamisten, Katholiken, Evangelikalen oder orthodoxen Juden.
 
Grundlage ist stets Lust-, Genuss-, Menschen-, Lebensfeindlichkeit, Gewalt, Rache, Strafe, Hass - erforderlich ist hierfür immer ein Feind, ein geschaffenes und gehegtes Feindbild, ein Ausgrenzen, Abwerten und ein Verweigern von Dialog, Austausch, Mitgefühl, Wahrhaftigkeit, Authentizität, Selbstreflexion, Selbstkritik.
 
Es ist die Unfähigkeit, eigene Bedürftigkeit, Verletzlichkeit, eigenes, zumeist intensives Beschädigt(worden)sein, üblicherweise in der Kindheit solcher Menschen, zuzulassen, auszuhalten.
 
Es ist die Verweigerung von Heilung, von Entwicklung, Reifen.
 
Es ist Schwäche. Das Gegenteil von Autonomie, das Gegenteil von Souveränität, das Gegenteil von Charakterstärke, Größe.
 
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"[...] Die "Taten" werden immer indirekter; die "Täter", die "Subjekte", von ehedem immer mehr Funktionäre, Ingenieure des Schrecklichen, und die "Objekte", die Opfer, sind immer weniger sichtbar. Gefühle, gar Leidenschaften sind da überflüssig: Wo hätten sie in vielfach vermittelten, depersonalisierten Prozessen ihren Ort?
 
Anders hatte Recht in Bezug auf die Psychologie der großen Vernichtungskriege. Auch, was sich heute chirurgical strike nennt, ist von diesem nüchternen, gefühlsfreien Typ: ein Computerspiel. Etwaiger Hass ist in die humanen "Kollateralzonen" verbannt. Aber sonst? Schwerlich gibt es derzeit Aktuelleres, weniger Antiquiertes als den Hass. Er regiert im Herzen des globalen Terrorismus, zwischen Ground Zero, Beslan, Falludscha, Madrid, London, aber auch in seiner angeblich nur defensiven Form in Guantánamo und Abu Ghraib. Die Renaissance ganzer fanatischer Religionen scheint von ihm bestimmt. Der militante Islamismus, das fundamentalistische Christentum, der hinduistische Nationalismus – sie alle frönen dem Hass. Und allen fehlt es nicht am "großen Satan", gegen den sie zu Felde ziehen können, mag es der gottlose Westen, das "Reich des Bösen" oder irgendein anderer Dämon sein. Einem manichäisch gefärbten Dualismus kann es nicht an Kandidaten fehlen. In den "Hasspredigern" hat die Verbindung von fanatisierter Religion und Hass ihren rhetorischen Ausdruck gefunden.
 
André Glucksmann, einem der inzwischen in die Jahre gekommenen "Neuen Philosophen" in Frankreich, immer schon für pointierte Debattenbeiträge gut, wo es die böse Linke, die Meisterdenker oder Die Macht der Dummheit zu attackieren galt, ist also nur zuzustimmen, wenn er lakonisch konstatiert: "Es gibt Hass"; es gibt die "Rückkehr seiner elementaren Gewalt".
 
Diskussionsbedarf freilich besteht in der Frage, ob und gegebenenfalls wie der Hass motiviert und wie er zu bekämpfen, vielleicht sogar zu überwinden ist. Im Hintergrund steht mit dem Hass einmal mehr die Aufklärung mit ihrem Glauben an die Humanisierbarkeit des Menschen zur Diskussion.
Glucksmann lässt keinen Zweifel, auf welcher Seite er hier steht: Im Unterschied zu den guten Leuten, die immer noch nicht wissen, was die böse Stunde geschlagen hat, malt er sein Schwarz in Schwarz. Mit sozialer und psychologischer Ursachenforschung, mit dem Elan sozialarbeiterisch inspirierter Therapie kann man Glucksmann zufolge dem Hass nicht beikommen. Denn er ist ein "absolutes" Gefühl, "autonom" wie das Böse. Die Zerstörung will er um ihrer selbst willen. Und wenn er doch noch etwas anderes will, dann den Kult des absolut gesetzten Ichs, das aus allem nihilistisch nichts macht und sich so zum destruktiv allmächtigen Gott befördert. "Ich hasse, also bin ich", lautet nicht eben originell das Selbstbekenntnis eines pseudocartesianischen Egos, das sich gerade nicht aus dem Zweifel, sondern aus fatalen absoluten Gewissheiten nährt.
 
Folgerichtig steht bei Glucksmann hinter dem Widerruf aufklärerischer Humanisierungsprogramme eine "Naturgeschichte des Hasses auf das Humane". Therapie gibt es hier nicht, nur den entschlossenen Kampf, einschließlich Antiseuchenprogramm und Quarantäne. Denn der Hass pflanzt sich wie "eine ansteckende Krankheit" fort. Die triftigste Frage an diese Diagnose, die Satanisierung und Epidemiologie verbindet, stellt Glucksmann am Schluss sich selber – "Hasse ich den Hass?" –, um sie freilich unverzüglich abzuweisen: "Kein bisschen." Da ist sich der Rezensent nicht so sicher.
 
Hat der Hass Ursachen, vielleicht sogar Gründe, die ihn keineswegs billigen, aber doch ansatzweise erklärbar machen? Auf jeden Fall operiert er nicht kontextfrei und absolut. Glucksmann selber zeichnet in instruktiven Kapiteln zum Judenhass, zum Frauenhass, zum Antiamerikanismus die Rationalisierungsgrundlagen nach, aus denen der Hass vorgibt, sich zu nähren. In einem vorzüglichen Montaigne-Kapitel, das der Auseinandersetzung mit dem damals wie heute dominierenden religiösen Hass gewidmet ist, wird der theologisch-politische Wahn, die Verbindung "allerhimmlischster Überzeugungen" mit "unterirdischen Sitten", angemessen scharf umrissen. Die glänzend belesene Analyse einer literarischen Hass-Figur wie Medea und des von ihr inszenierten Theaters der Grausamkeit sieht freilich umso hartnäckiger von Medeas tiefer Verletzung ab, um desto besser über ihren "Furor" zu Gericht sitzen zu können. "Die Zwischentöne fehlen, die das Leben, die Prüfung der Verantwortung und die Wahrheit der Literatur ausmachen": so Glucksmann unfreiwillig selbstkritisch.
 
Gewiss, nicht im Verhassten, sondern in dem Hassenden liegt die Erklärung für den Hass, wie Glucksmann mit berühmteren Ahnen, Sartre und Jankélévitch, feststellt. Aber was erklärt den Hassenden, seine wahnhafte Paranoia, den Hass als Abwehrmechanismus, der im anderen befehdet, was er an sich selbst nicht gelten lassen darf? [...]"
 
Quelle: Zeit-Artikel (Essay) von Ludger Lütkehaus, siehe oben stehenden Link; farbliche Hervorhebungen habe ich vorgenommen.

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