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Sabeth schreibt

Poesie Melancholie Philosophie Feminismus Anarchismus

Anmerkungen zum sogen. Sozialstaatskonzept, Bürgergeld, Zukunft in Arbeit, Weiterbildung etc. der SPD - Hartz 4 beheben sieht anders aus

 
Anmerkungen zum sogen. Sozialstaatskonzept, Bürgergeld, "Zukunft in Arbeit", Weiterbildung etc. der SPD - Hartz 4 beheben sieht anders aus
 
Es ist das aktuelle SPD-"Konzept" eine einzige Nebelkerze, ein so offensichtlicher wie abstoßender Bluff:
 
Hartz 4 würde erst dann überwunden, wenn:
 
- alle Sanktionen grundsätzlich abgeschafft und
 
- die Regelbedarfe tatsächlich angemessen angehoben würden, statt weitere Bedarfsunterdeckung im Bürgergeld fortzusetzen, wenn es
 
- außerdem ein Recht (!) auf je individuell angemessene berufliche Qualifizierung gäbe (nicht sogen. "Weiterbildung", MAT).
 
Überdies müsste die SPD ihren Arbeitsbegriff endlich zeitgemäß definieren:
 
Arbeit ist mehr und noch anderes als Erwerbstätigkeit, siehe bspw. Ehrenamt, Sorge-ARBEIT, die die SPD nicht als Arbeit anerkennt, sie nicht existenzsichernd monetär honoriert, entlohnt.

Siehe außerdem gut bezahlte bullshitjobs (David Graeber) und Digitalisierung.
 
Die SPD muss ihre neoliberal-kapitalistische Ausrichtung (Seeheimer Kreis) überwinden und sich für tatsächliche soziale Gerechtigkeit, für Gemeinwohl(ökonomie), Selbstbestimmung von Menschen einsetzen, also u.a. ein emanzipatorisches Grundeinkommen und das tatsächliche Beheben von materieller Armut.
 
Für wann genau ist eigentlich die Umsetzung/Anwendung der aktuellen "Bürgergeld"-Ideen gedacht: wenn die SPD im Bund nicht mehr mitregiert?
Offensichtlich geht es der SPD nur um sich selbst, nicht um die Menschen, insbesondere nicht um materiell arme.
 
Es geht nicht um das Beheben materieller Armut, sondern um das fortgesetze Zwingen der Nicht-Vermögenden, der Nicht-Privilegierten zu Gehorsam, Unterwerfung, zu kapitalistisch ausbeutbarer Erwerbstätigkeit, die mitnichten gleichbedeutend ist mit Arbeit.
 
Es geht auch nicht um Gemeinwohl (-ökonomie), Solidarität und das erforderliche Überwinden des global destruktiven Kapitalismus´. Es geht nicht im Ansatz um soziale Gerechtigkeit und damit Demokratieerhalt.
 
Es geht um den Erhalt von Macht, Kontrolle, Überwachung, staatlichen Paternalismus, Autoritarismus, Dressur und Kapitalismus, Neoliberalismus.
 
Nahles & Co. geht es um die bevorstehenden Landtagswahlen und um ihren Machterhalt. Um n i c h t s weiter. Eben dies belegt "Zukunft in Arbeit, Bürgergeld" in aller unmissverständlichen Deutlichkeit. #Wirsinddochnichtblöd
 
"[...] In der Parteispitze ist klar, dass die SPD von ihrem neuen Sozialstaatskonzept zusammen mit CDU und CSU kaum etwas wird durchsetzen können. Beim Koalitionspartner werden die Kurskorrekturen bereits als "Linksruck" wahrgenommen. Nahles sagt, ihr gehe es erst mal um die SPD."
Quelle: sueddeutsche.de - "Wie die SPD aus dem Tief kommen will", siehe Artikel unten verlinkt.
 
"Recht auf Arbeit" - die SPD enttarnt sich damit selbst:

Sie möchte Arbeit nach wie vor mit ausschließlich kapitalistisch ausbeutbarer Erwerbstätigkeit gleichsetzen und Nicht-Privilegierte, Nicht-Vermögende weiterhin mittels Erwerbsarbeitszwang diesem und dem kapitalistischen System unterwerfen.
Wie wäre es stattdessen mit dem angewandten, statt missachteten Recht auf Menschenwürde, siehe außerdem GG Art. 12, Art. 20, Art. 2.
 
Die SPD möchte schlicht workfare erhalten, fortsetzen. Aus bekannten Gründen. Da helfen auch euphemisierte Phrasen, headlines, Pseudo-"Konzepte" nicht(s).
 
-
"[...] Es handelt sich dabei nicht nur um eine Höherbewertung der Lohnarbeit für das menschliche Leben. Die Architekten der Reformen sind sich ihrer Sache so sicher, dass sie bei der Bewertung der Arbeit für das Leben die Entscheidungsfreiheit der Einzelnen kaum mehr in Betracht ziehen. Es wird schlicht vorausgesetzt, dass alle Menschen in die Lohnarbeit wollen, und mehr noch: dass sie, wo sie dies nicht wol- len, auf gravierende Weise falsch leben – und dass dies durch Sozialpolitik geändert werden muss. [...]
 
In Fällen, wo bei Zuwiderhandlung eine Strafe in Form von Minde- rung oder Entzug der Leistungen angedroht wird, ist dabei philosophisch von „Zwang“ zu sprechen. Dieses Elementträgt deutlich illiberale Züge: Der Staat wendet Zwang gegen seine Bürger an und gibt seine „Neutralität“ hinsichtlich ver- schiedener Konzeptionen des guten Lebens auf. Die philosophische Frage ist nun, wie und ob dieser Zwang zu rechtfertigen ist. [...]
 
Hat der Staat ein moralisches Recht, von seinen Bürgern Arbeitsleistungen zu erzwingen? [...]
 
Darf der Markt das Vorbild der Sozialpolitik sein – einer Politik, die einmal für die Bereiche jenseits des Marktes zuständig war? Und ist es berechtigt, diese Marktförmigkeit im Ernstfall zu er- zwingen? [...]
 
Ob erzwungene Arbeit eine „Verbesserung“ ist, steht ja gerade infrage – und der empirische Trend der materiellen Veränderungen geht eher in Richtung einer wachsenden Ungleichheit, also zuungunsten der Schwächeren. Auch der Nutzen von Gruppen taugt also nicht für eine utilitaristische Rechtfertigung der Reformen. Ebenso wenig kommt der Nutzen der Gemeinschaft in Betracht: staatliche Arbeitspflicht ist nur zulässig, wenn damit ein drohender gemeinschaftlicher Schaden abgewendet wird,3 es keine anderen Wege gibt und die angewandten Mittel verlässlich sind. Keine dieser Bedingungen ist erfüllt: Der Bezug von Sozialleistungen ist in der Regel keine Schädigung der Gemeinschaft, da kein intendierter „Entzug“ von Arbeit vorliegt, sondern in den meisten Fällen Arbeitsstellen ohne Zutun der Individuen überflüssig geworden sind. Auch sind an- dere Wege erkennbar: Wem das Grundeinkommen zu utopisch anmutet, der denke an die alte „dekommodifizierende“ Sozialpolitik oder eine Befähigungspolitik ohne Zwang.
 
Und schließlich ist der eingeschlagene Weg kaum als sicher zu bezeichnen: Die Reformen kosten viel Geld, die zusätz- liche Arbeit bringt der Gemeinschaft je- doch wenig ein. Zwar könnte die rein monetäre Rechnung am Ende positiv aus- fallen. Doch weder ist dies vorab mit Sicherheit auszumachen (es gibt auch gegen- teilige Befunde,4 und normativ ist es fragwürdig, Einschnitte in die Freiheit mit zukünftigen Effekten zu rechtfertigen, deren Wahrscheinlichkeit offen ist), noch beantwortet eine fiktive globale Einsparung die Frage, um wessen Nutzen es sich han- delt: Lohnsenkungen als Folge von Ein-Euro-Jobs etwa nutzen den Unternehmen, schaden aber allen anderen Menschen. [...]
 
Soziale Sicherheit und Sozialkapital für alle Bürger gehen verloren, es entsteht eine Atmosphäre der Verdächtigung und Missgunst. Nimmt man die empirische Wirtschaftsforschung ernst, kann Nutzen nicht allein monetär bestimmt sein: Es müssen auch andere Güter zählen. Eben dieses „Zählen“ schafft Probleme, die den Utilitarismus sprengen. Der Wert der individuellen Freiheit etwa lässt sich weder berechnen noch aggregieren – daher ist der Liberalismus eine eigene Rechtferti- gung. Urteile über das gelingende Leben hingegen implizieren starke Wertungen – dies führt ebenfalls zu einer eigenständigen Rechtfertigungsstrategie, dem Perfektionis- mus. Gibt es hier überzeugendere Rechtfertigungen? [...]
 
Wenn es um die charakterliche Be- schaffenheit von Personen gehen soll (wie bei Lawrence Mead oder Anthony Giddens),11 ist Zwang bei Erwachsenen wenig hilfreich.
(2) Die Engführung von „Autonomie“ auf Lohnarbeit ist schon begrifflich fragwürdig. Perfektionistische Autoren in der Philosophie kennen andere Werte, die für die persönliche Autonomie relevant sind, hier aber nicht vorkommen (künstlerische Ak- tivität, Muße, soziale Beziehungen und Selbstverwirklichung etwa). 12
(3) Die besondere Art von Arbeit, die work- fare verlangt, ist wenig autonomiefördernd, da hier a) kaum Bezahlung, daher b) wenig gesellschaftliche Anerkennung und damit c) kaum ein höherer Selbstwert erwartet werden darf. Man könnte niederen Arbei- ten mit gleichem Recht eine Verbildung des Charakters zuschreiben. Selbst wenn Arbeit sich in Einzelfällen positiv auf Lebensqualität und Charakter auswirken würde, gibt das noch keine Rechtfertigung für eine allgemeine Verpflichtung von Wohlfahrtsempfängern zur Arbeit ab, solange keine Qualitätsstandards gewährleistet sind. [...]
 
Eine umfassende Verantwortung der Individuen für ihre Lage wird schlicht unterstellt. Diese viktorianische Moralisierung kann keine sachlichen Argumente für ihre Ausblendung sozialer Faktoren angeben, eben weil sie sie ausblendet.13 Normativ ist es fragwürdig, ausgerechnet den schwächs- ten Individuen die Schuld für gesellschaftliche Probleme aufzuladen; vielmehr ginge es darum, sie zu schützen und aufzubauen. [...]
 
Wenn diese Einreden stimmen und es nicht noch eine vierte, überzeugendere Rechtfertigungsstrategie gibt, dann fehlt der Umstellung der Wohlfahrtspolitik auf Marktimperative im Falle der Erzwingung von Arbeit bei Wohlfahrtsempfängern eine überzeugende normative Legitimation. Sie basiert auf einer ideologischen Aufladung der moralischen Effekte von Lohnarbeit, die nicht nur an dem langfristigen Trend des Schwindens adäquater Arbeitsstellen vorbeidenkt, sondern die auch auf einer verfehlten Arbeitsphilosophie beruht.
Sollte eine charakterliche Hebung der Bevölkerung tatsächlich das politische Ziel sein, gibt es angemessenere (etwa bildungspoli- tische) Instrumente. Lohnarbeit ist als Erziehungsinstrument nicht geeignet; umso weniger ist es ihr zwangsgeborenes Derivat „workfare“.
Es ist kaum einzusehen, warum staatliche Gelder zur Sicherung fauler Kre- dite eingesetzt werden, nicht aber zur Si- cherung der Lebensqualität der Bürger auch jenseits der Lohnarbeit. Der Marktoptimismus, der hinsichtlich der Finanzmärkte jüngst durch Krisen erschüttert worden ist, ist auch in der Wohlfahrtspolitik verfehlt. Statt Märkte künstlich und durch Anwendung von Zwang weiter in vormals „politische“ Felder auszudehnen, ist es an der Zeit, sich der zivilisierenden und gemeinwohlfördernden Wirkung dekommodifizierender Sozialpolitik zu entsinnen."
 
 
update 13. Februar 2019
 
Ein ursprünglich auf facebook von mir geposteter Kommentar hier eingefügt, denn es gibt offenbar immer noch in nicht geringer Zahl jene, die es intellektuell nicht erfassen k ö n n e n neben denen, die es nicht "begreifen", d.h. nicht zugestehen w o l l e n, weil sie von den bestehenden, u.a. sozialpolitischen Missständen, von sozialer Ungerechtigkeit und Kapitalismus inklusive Ausbeutung sowie dem "Sozialstaat" - der vorrangig die (obere) Mittelschicht hofiert, nicht die sogen. Unterschicht schützt, Letztere schon gar nicht fördert - je persönlich profitieren.

Hier daher der Kommentar zu Grundsatzthemen:
 
Haben Sie schon einmal in Betracht gezogen, den gängig verbreiteten Arbeitsbegriff zu hinterfragen?
Ist Ihnen je erkenntlich geworden, dass und warum Arbeit nicht gleichbedeutend ist mit Erwerbstätigkeit? Siehe u.a. die unentbehrliche "häusliche" Sorge-Arbeit, die weltweit nach wie vor mehrheitlich Frauen l e i s t e n und ohne die jede Gesellschaft und Gemeinschaft binnen kürzester Zeit kollabierte?
 
Ist Ihnen ansatzweise nachvollziehbar, dass es Menschen gibt, die arbeiten, ohne erwerbstätig zu sein, die zum Gemeinwohl ihren Beitrag leisten - so weit und umfassend sie es jeweils je persönlich können (Stichwort Biographie, Benachteiligungen, prekäre Lebensverhältnisse, Kindheit, Beschädigungen, Erkrankungen etc.) - und sich nicht als Lohnarbeitssklaven, als Menschenmaterial für den augenfällig global destruktiven Kapitalismus ausbeuten, verheizen lassen wollen, weil dieser nicht ansatzweise gemeinwohlförderlich, sondern Gemeinwohl, Demokratie und Frieden schädigend ist?
 
Haben Sie je Ihr offensichtlich konservatives Menschenbild selbstkritisch hinterfragt?
 
Meinen Sie ernstlich, Menschen würden mittels Schwarzer Pädagogik: Druck, Zwang, Kontrolle, Härte, Dressur, psychischer und/oder auch physischer Gewalt je zu prosozialem Verhalten, Fairness bewegt werden können?
 
Ist Ihnen foglich noch nicht ansatzweise bewusst geworden, dass und warum es bei jeglicher (!) Strafe (so auch den Sanktionen) grundsätzlich nur um Rache, Macht, Kontrolle, das Erzwingen von Gehorsam, Unterwerfung - durch Angst, Leid, Schmerzen, Gewalt - geht und damit niemals prosoziales Verhalten erwirkt werden kann, schon gar nicht Wiedergutmachung und auch nicht Prävention?
 
Und dass ausnahmslos jeder Strafende - ethisch nicht legitimierbar - selbst Täter psychisch-emotionaler oder auch physischer Gewalt ist?
 
Nein, augenfällig ist Ihnen all das nicht im Mindesten erkenntlich geworden. An Reflexionsvermögen mangelt es Ihnen offensichtlich.
 
-
 
Das Lohnabstandsgebot als Vorwand, Ausflucht, denn:

Nur dann, wenn und so lange das sogenannte Existenzminimum so unangemessen niedrig, bedarfsunterdeckend, nicht existenzsichernd ist, lassen sich unfaire Niedriglöhne "legitimieren" und erhalten, somit Ausbeutung in, durch Erwerbsarbeit. - Nicht das Pferd von hinten aufzäumen, @spd.
 
"[...] Inhaltlich präzisierte die Sozialdemokratin ihre Alternative zu Hartz IV - das »Bürgergeld«. Nur: Ein neuer Name für Hartz IV heißt nicht, dass das Prinzip des Systems aufgegeben wird. Denn das Mantra der Hartz-Reformen des SPD-Kanzler Gerhard Schröders - das »Fördern und Fordern« - will Nahles erhalten. Auch ihr Blick auf Erwerbslose scheint sich wenig geändert zu haben: »Bei harten Brocken aber muss das Amt die Möglichkeit haben, die Zügel anzuziehen«, befand sie. Die Sanktionen sollen der Logik zufolge auch nicht abgeschafft werden, sondern nur extreme Härten wie das Streichen der Unterkunftskosten verhindert werden. Allerdings solle der Fokus stärker auf das Fördern gelegt werden, beeilte sich Nahles zu betonen. Auch die Höhe des Regelsatzes tastet Nahles nicht an. Man habe eine Verantwortung gegenüber Menschen, die für wenig Geld jeden Tag zur Arbeit gehen, so Nahles. »Wenn wir denen das Gefühl geben, dass sich ihr Einsatz finanziell nicht mehr lohnt, zerstören wir jede Motivation«, sagte sie im RND. [...]"
 
Quelle: neues-deutschland.de - "SPD in der Kosmetikabteilung", farbliche Hervorhebungen habe ich vorgenommen. 
 
Völlig ignoriert wird hierbei gezielt, dass Arbeit nicht gleichbedeutend ist mit Erwerbstätigkeit, dass die unentbehrliche häusliche Sorge-Arbeit, die mehrheitlich immer noch Frauen leisten, nicht ansatzweise monetär honoriert, entlohnt wird.
 
Weiterhin wird absichtsvoll übergangen, dass und warum Menschen nicht, wie ihnen vorgeschrieben, erwerbstätig sein können, sie werden dann auch einer gesundheitspolitischen Bürokratiemauer gegenübergestellt - mit entsprechenden Folgen. Es ist all das nicht bedürfnisorientiert.
 
Und ganz besonders ekelhaft finde ich die Indoktrinierung zu immer früherer, immer längerer Fremdbetreuung, die Frauen, Familien mitnichten bedürfnisorientiert entlastet.
 
"[...] Doch Tausende, wenn nicht Hunderttausende bedürftige Bürger haben diesen Durchblick längst verloren.
Sie wissen nicht, welche Bestimmungen und Programme für sie gelten. Ihnen entgehen Hilfen, die ihnen zustehen. Das Sozialsystem ist für sie längst nicht mehr das, was es sein soll: ein unkomplizierter Helfer, der neue Lebenschancen eröffnet. Stattdessen begegnet der Sozialstaat gerade jenen Bürgern, die ihn am dringendsten brauchen, wie ein bürokratischer Leviathan. „Das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit von Parteien und Regierung ist brüchig geworden“, sagt Reiner Hoffmann, der Chef des Deutschen Gewerkschaftsbunds (siehe Interview).

Es ist diese gefühlte Hilflosigkeit gegenüber einem anonymen System, das in Frankreich den Geist der „Gelbwesten“-Bewegung befördert hat. Und das bei deutschen Politikern eine paradoxe Reaktion auslöst: Weil viele Politiker sich auch hierzulande vor der Unzufriedenheit jenes unteren Viertels der Bevölkerung fürchten, an dem der Aufschwung der vergangenen Jahre weitgehend vorüberging, versucht man, das Volk mit noch mehr und noch umfangreicheren Sozialprogrammen zu beglücken.
Dabei ist es weniger die Höhe der Sozialleistungen, die Ohnmachtsgefühle auslöst, als ihre Undurchschaubarkeit, ihre fehlende Treffsicherheit und das dahinterstehende Menschenbild des deutschen Sozialstaats: der Bürger als ein im Grunde lebensuntüchtiges Wesen, das gegängelt und bevormundet werden muss, von der Jobsuche bis zur Kindererziehung.[...]
 
Wie aber müsste ein besserer Sozialstaat aussehen? Dazu gilt es, zwei Fragen auseinanderzuhalten. Die eine Debatte dreht sich darum, wie viel Sozialstaat wir haben wollen. In dieser Debatte gibt es letztlich kein „Richtig oder falsch?“, nur Werturteile und Menschenbilder. [...]
 
Entscheidend ist die Antwort auf die zweite Frage: Wie effizient wird das umverteilte Geld ausgegeben? [...]
 
Im Winter 2016 nahm Dieckmann einen befristeten Job als Leiharbeiter an, wenige Monate darauf stieg sein Gehalt um 100 auf 1700 Euro. Die Familie mietete zusätzlichen Wohnraum an und zahlte dafür 60 Euro mehr Miete. Bei der Neuberechnung berücksichtigte die Familienkasse nur das höhere Gehalt, nicht aber die höhere Miete. Dieckmann sollte eine Rückzahlung von 480 Euro leisten. Er legte Widerspruch ein. Die Familie musste zwei Monate lang ohne den Kinderzuschlag auskommen, bis die 505 Euro schließlich doch ausgezahlt wurden.
Doch der Ärger ging weiter, als Dieckmanns befristeter Vertrag am 23. Dezember 2017 auslief und er im neuen Jahr eine Umschulung zum Fachinformatiker begann. Das Restgehalt für Dezember wurde erst im Januar ausgezahlt, das Arbeitslosengeld für die paar Tage im Dezember und den Januar aber erst im Februar.
Die Folge: Wegen des Zuflussprinzips – das Einkommen wird immer in dem Monat gewertet, in dem es auf dem Konto eingeht – verlor Dieckmann im Januar plötzlich den Anspruch auf Kinderzuschlag und Wohngeld. Denn das letzte vom Arbeitgeber gezahlte, anteilige Gehalt lag unterhalb der Einkommensgrenze, die zum Bezug der Hilfen berechtigt. Stattdessen hätte er als sogenannter „Aufstocker“ Hartz IV beantragen müssen. Also ging Dieckmann zum Sozialamt und füllte für den entsprechenden Antrag 25 Formularseiten aus, plus die einzureichenden Belege.
 
Dieser bürokratische Wahnsinn hat Methode. Das gilt vor allem für die Familienpolitik. Über 150 verschiedene familienpolitischen Leistungen gibt es, doch kaum einer blickt da noch durch. Im Finanzministerium spricht mancher Beamter vom Familienministerium als „Familienmysterium“.
2014 untersuchte eine große Studie im Auftrag der Bundesregierung alle familienpolitischen Leistungen auf ihre Wirksamkeit. Der Ökonom Michael Böhmer, damals beim Forschungsinstitut Prognos, leitete das Projekt. Als die Ergebnisse vorlagen, kam er zu ernüchternden Ergebnissen: „Der deutsche Sozialstaat ist in seiner heutigen Ausgestaltung zu ineffektiv und intransparent. Es gibt bei der Familienförderung keine zwei Leistungen, die aufeinander abgestimmt sind. Viele widersprechen sich sogar völlig.“ [...]
 
„In der Familienpolitik wird zu viel Geld für die Mittelschicht und zu wenig für Armutsbekämpfung ausgegeben“, sagt Wirtschaftsprofessor Martin Werding, der damals an einer Studie beteiligt war.[...]
 
Doch das war nicht das einzige Problem mit dem Kinderzuschlag. Aus Analysen der Bundesregierung ging hervor, dass 2012 nur fünf Prozent der Deutschen dessen Existenz überhaupt kannten. Und von diesen wenigen sind viele dann am Antrag verzweifelt. Acht Seiten waren auszufüllen, dazu diverse Zusatzformulare zu Versicherungen, Miete, Unterhalt.
Der Vorgang war so aufwendig, dass die Bundesagentur für Arbeit auf 66 Seiten erklären musste, wie die Sachbearbeiter die Formulare zu bearbeiten haben. Ergebnis: Nicht mal ein Drittel der Eltern, die rechnerisch Anspruch hätten, erhielten 2017 den Zuschlag.
 
Was sich bei den staatlichen Sozialsystemen ändern müsste, ist eigentlich klar: Der Gesetzgeber müsste aufhören, die Empfänger von Sozialleistungen als quasi-unmündige Fürsorgefälle zu begreifen, denen man Geld nur tranchenweise und nach komplizierter Einzelfallprüfung anvertrauen darf. Stattdessen müssen die unzähligen Unterstützungsleitungen zu wenigen pauschalen Zahlungen zusammengefasst werden. Das Personal, das dadurch in den Sozialbehörden frei wird, könnte sich endlich um ihre vornehmste Aufgabe kümmern: Menschen aus der Bedürftigkeit hinaus zu helfen durch die Vermittlung von Qualifizierung und ordentlich bezahlten Jobs.[...]
 
Klar, dass jede Krankenversicherung existenzbedrohende Risiken wie schwere Operationen oder teure Krebsmedikamente abdecken muss. Doch jenseits dieser Kernleistungen gibt keinen nachvollziehbaren Grund warum sich Privatpatienten ihren maßgeschneiderten Leistungskatalog aus einer Vielzahl von Tarifen zusammenstellen können, inklusive eines für sie passenden Selbstbehalts.

Während Kassenpatienten den Leistungsumfang akzeptieren müssen, den der Staat und die im Gesundheitswesen besonders mächtigen Selbstverwaltungsorganisationen als angemessen erachten. Im Normalfall erfahren Kassenpatienten noch nicht einmal, was die Behandlung kostet, die sie da gerade in Anspruch nehmen. Selbstbestimmung? Im Prinzip ja, aber bitte nicht beim Arzt. [...]"
 
Quelle: handelsblatt.com - "Die Vollkasko-Republik - Wie Deutschland seine Bürger gängelt"
 

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